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Transkontinentale Utopien

„My sweet Home“ ist der deutsche Wettbewerbsbeitrag der diesjährigen Filmfestspiele. Der Film von Filippos Tsitos erzählt von einer langen Nacht der Wahrheit, und Berlin ist so multikulturell und kosmopolitisch, wie wir es alle gerne hätten

von KATJA NICODEMUS

Bei der Auswahl deutscher Wettbewerbsbeiträge hat sich Moritz de Hadeln immer wieder in die Nesseln gesetzt. Dass aufgemotzte Investitionsgräber wie „Aimée und Jaguar“ oder „Enemy at the Gates“ ein Festival aus standortpolitischen, staatsraisonalen oder massenpsychologischen Gründen eröffnen gehört wohl zum Business. Zumal bei solchen Schlachtschiffen die entsprechende Breitseite von der Presse auch keinen Unterschied mehr macht.

Bedauerlich wird’s, wenn der Film zu klein ist. Vor zwei Jahren zum Beispiel wurde Michael Gwisdeks „Mambospiel“, ein gar nicht unsympathisches Jetzt-drehen-wir-mal-einen-Film- unter-Freunden-Projekt, ohne jeden vernünftigen Grund ins Haifischbecken des Wettbewerbs geworfen. Nach dem medialen Schlachtfest blieb nicht allzu viel davon übrig.

In diesem Jahr ist „My sweet Home“, Filippos Tsitos‘ Abschlussarbeit an der Deutschen Film- und Fernsehakademie, der einzige deutsche Wettbewerbsbeitrag (sieht man von den deutschen Millionen, die in „Enemy at the Gates“ versickert sind, einmal ab). „My sweet Home“ ist ein utopischer Film, weil er ein Berlin zeichnet, das so kosmopolitisch, multikulturell und so harmonisch bunt gemischt ist, wie wir es alle gerne hätten. Eine Kneipe namens Globus wird hier zum heimeligen Biotop, in dem die ganze Welt Platz hat: russische Musiker und marokkanische Bauarbeiter, brasilianische Studenten und japanische Touristen, auch ein Ostdeutscher ist dabei, und, last not least, ein Amerikaner, der seinen Polterabend feiert.

„My Sweet Home“ erzählt von den Irrungen und Wirrungen dieses jungen Bräutigams, der alle Energie aufgebracht hat, um seine Angebetete zur Heirat zu bewegen, dann aber doch von den in solchen Fällen nicht selten auftretenden tiefen Zweifeln ergriffen wird. Und während sich die russische Band langsam zu rhythmischen Exzessen hochschaukelt, während der Alkohol fließt und die völkerverbindende Party gerade dabei ist, in den nächsten Gang zu schalten, treten plötzlich tief greifende Fragen an die Oberfläche: Was ist Heimat? Warum lebt man an diesem und nicht an jenem Ort? Wie sieht der eigene Lebensentwurf aus? Wurden die eigenen Hoffnungen enttäuscht oder nicht?

Transkontinentale Telefonate mit den Eltern sorgen zumindest vorübergehend für Aufklärung und konfrontieren die Protagonisten einmal mehr mit den eigenen Illusionen und Lebenslügen. Kurz: Obwohl „My sweet Home“ eigentlich nur 83 Minuten dauert, jagt eine Stunde der Wahrheit die nächste.

Die Naivität, mit der Tsitsos (der übrigens auch das Drehbuch schrieb) seine existentialistischen Loser, gestrandeten Existenzen und Schräglinge über das Leben philosophieren lässt, hat etwas Rührendes. Und so sind am Ende dieser sinngeladenen Nacht, die trotz der sich fast überschlagenden Fiedler keinen rechten filmischen Rhythmus finden will, natürlich alle irgendwie verändert.

Zu klein oder zu aufgeblasen – irgendwie bekommt die Berlinale zum deutschen Film kein normales Verhältnis. Die Produktionslage mag im Vorfeld der Berlinale nicht berauschend gewesen sein, und Moritz de Hadelns Wunschfilm, Oliver Hirschbiegels Psychothriller „Das Experiment“, will nun mal sein Glück in Cannes versuchen. Vielleicht stand der scheidende Berlinale-Boss nach seiner geradezu traumatischen Ablehnung von Oscar Roehlers Film „Die Unberührbare“ bei seiner letzten Berlinale auch einfach zu sehr unter Zugzwang. Einer mehr oder weniger harmlosen Gutmenschelei wie „My sweet Home“ hat er jedenfalls keinen wirklichen Gefallen getan, indem er sie in den Wettbewerb gehievt hat.

„My sweet Home“. Regie: Filippos Tsitos. Deutschland, 83 Min.

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