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Tränen, groß wie Fußbälle

„Bumm“ machte es und die Belgier schieden aus. Damit ist auch die Mission des guten Menschen Robert Waseige beendet, den Kickern die Flausen auszutreiben und eine Nation zu einen

aus BrüsselRALF MITTMANN

Robert Waseige ist ein freundlicher Zeitgenosse, ein Mann des Miteinanders, ein Mensch mit einem Wesen, das ihn zur Konfliktbereinigung befähigt, wie das im Vorfeld belgische Soziologen ausgedrückt haben. Dem 60-jährigen Wallonen hatten die Gesellschaftsforscher zugetraut, er könne Vermittler sein zwischen Nord und Süd, zwischen Flamen und Wallonen. Eine erfolgreiche Europameisterschaft der belgischen Kicker mit diesem einfühlsamen Mann an der Spitze, so die Meinung der Gelehrten, könne mehr zur Verständigung der beiden Volksstämme beitragen als jeder Politiker.

Vorbei. Belgien, seine Flamen und seine Wallonen müssen warten. Denn es hat „bumm“ gemacht, wie Marc Wilmots vor dem entscheidenden Spiel gegen die Türkei ein vorzeitiges EM-Aus beschrieben hatte. Die Tageszeitung Le Soir machte ihre Titelseite gestern auf mit der Karikatur eines geknickten roten Teufels, der Tränen in Form von Fußbällen vergießt. Das 0:2 gegen die Türken, für die Starstürmer Hakan Sükür zweimal traf, raubte den Belgiern alle Illusionen, im Platzkonzert der Großen lange mitpauken zu können. Klein waren die Hoffnungen nicht gewesen, was schon alleine die Tatsache beweist, dass eine Titelprämie ausgesetzt war. 360.000 Mark sollte jeder belgische Europameister erhalten. Und vor dem ersten Anpfiff hatte sich selbst der gemütliche Waseige zu dem Spruch verleiten lassen, diese EM sei „vielleicht eine einzigartige Chance für uns, etwas zu schaffen, worüber man noch in hundert Jahren redet“.

Bumm, aus, vorbei. „Es ist schade für die Spieler, schade für alle Helfer, die großartige Arbeit geleistet haben, schade für das ganze Land“, sagte Waseige, „aber es ist, wie es ist.“ Über den letzten Teil seines kurzen Resümees wird Belgiens Nationaltrainer noch nachdenken müssen. In diesem „Es ist, wie es ist“ steckte nämlich auch eine Portion Enttäuschung über die Ereignisse der nur zehn Tage dauernden EM-Tour der Roten Teufel. Vieles ist nicht so gelaufen, wie es sich Waseige vorgestellt hatte, und im Stillen wird er sich fragen müssen, ob er nicht ein zu guter Mensch gewesen ist. Dem Coach war ja nicht verborgen geblieben, dass es einige seiner Spieler mit der Konzentration auf das Wesentliche nicht so genau nahmen. Vor dem Türkei-Spiel hatte er erklärt, er habe „manchmal den Eindruck, dass nicht mehr alle 22 Spieler auf dem Boden sind“. Eine Warnung sollte es sein – sie kam jedoch nicht an.

Abgehobene Belgier? Mit Arroganz hat das nichts zu tun, eher mit Oberflächlichkeit und Naivität. Zum Beispiel Emile Lokonda Mpenza. Der 21-jährige Schalker gilt zu Recht als Hoffnungsträger im belgischen Fußball, aber mit seinem gestiegenen Popularitätsgrad wusste er nicht umzugehen. Der fliegende Wechsel von Freundin Nathalie zur aktuellen „Miss Belgien“, Joke van de Velde, ist natürlich Mpenzas Privatsache, aber dann hätte er eben nicht einmal das „Hausblatt“ einweihen dürfen. Die Tageszeitung La dernière heure, die dem Fußballer eine tägliche EM-Kolumne eingerichtet hat, brachte die Lovestory mit Bildern. Die Reaktion der Konkurrenz blieb nicht aus, Het latse Nieuws druckte flugs ein Interview mit Ex-Freundin Nathalie, in welchem sie bedauerte, aus der Zeitung über das Ende ihrer Beziehung zu erfahren. Die Schlagzeile: „Mpenza: auch in der Liebe ein schneller Kerl“. Aber nicht nur das. In seiner Kolumne am Tag des Türkei-Spiels, überschrieben mit dem Titel „Bereit für Portugal“, war zu lesen, dass die Belgier den Türken zweifelsfrei überlegen seien. Vor den Portugiesen allerdings, „die nach den Türken kommen“, da müsse man sich in Acht nehmen, weil die beeindruckt hätten.

Titel von Le Soir gestern im Sportteil: „Filip de Wilde zerstört die Euro der Belgier.“ Richtig ist, dass der Schlussmann durch einen katastrophalen Fauxpas das 0:1 verschuldete, aber der Alleinschuldige war er nicht. Keiner weiß das besser als Robert Waseige, der auch prompt den unglücklichen de Wilde verteidigte. So quälen den 60-Jährigen Gedanken, die einem Gemütsmenschen weh tun: Hätte er nicht strenger sein müssen?

Türkei: Rüstü - Fatih, Ogün, Alpay - Tayfun, Okan (77. Ergün), Suat, Tugay (37. Tayfur), Abdullah - Hakan Sükür, Arif (87. Osman)Belgien: De Wilde - Deflandre, Staelens, Valgaeren, Van Kerckhoven - Verheyen (63. Strupar), Vanderhaeghe, Wilmots, Goor (59. Hendrikx) - Nilis (77. De Bilde), Emile MpenzaZuschauer: 40.000; Tore: 1:0 Hakan Sükür (45.), 2:0 Hakan Sükür (70.); Rote Karte: De Wilde (Belgien/84.)

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