■ Tour de France: Jan Ullrich siegt, die Nation ist begeistert: Deutschland im gelben Trikot
Ein Hauch von dem, was die Tour de France sein könnte, brachte die sonntägliche Alpenetappe nach Courchevel, als Spitzenreiter Jan Ullrich plötzlich panisch und mutterseelenallein dem ausgerissenen Konkurrenten Virenque hinterherhetzte. Doch der denkwürdige Moment war schnell vorbei. Wenig später hatte der Mann in Gelb, unterstützt vom Dänen Bjarne Riis, das Rennen wieder unter Kontrolle und präsentierte sich als der Fahrer, der die Tour „bis ins Jahr 2003, 2004 gewinnen kann“ (Bernard Hinault), der „einsame Held von einem anderen Planeten“ (Le Figaro), der „Außeridische“ (El Mundo), ein Titel, der bisher nur Miguel Induráin zuteil wurde. Ullrich, der – alle zusammen – „neue Gigant“. Ullrich, der Glücksfall. Fragt sich nur, für wen.
Sicher für all jene, denen es das höchste Glück ist, einen Deutschen im gelben Trikot zu sehen, erstmals, wir wissen es, seit Klaus-Peter Thaler vor 243 Jahren.
Einen waschechten Teutonen gar als Tour-Sieger, erstmals seit Menschengedenken. Ein Speichen- Schumi sozusagen, Reifen-Schmeling, Ritzel-Boris. Nicht umsonst sausen die TV-Einschaltquoten in ungekannte Höhen, fallen, von der ausländischen Presse süffisant belächelt, Heerscharen von Reportern aus Deutschland in die Etappenzielorte der Tour ein, wo sie aufgeregt umherschwärmen, um dem frischgebackenen Superstar Sätze mit mehr als fünf Wörtern zu entlocken.
Glücksfall für den Radsport? Sicher nicht! Was der Tour de France gewiß am wenigsten gefehlt hat, ist ein neuer Induráin. Fünf Jahre lang hatte der Spanier die Tour nach demselben langweiligen Muster ablaufen lassen, bis er im letzten Jahr endlich schlappmachte. Es durfte wieder geträumt werden von solchen Entscheidungen wie 1987, als sich Stephen Roche und Pedro Delgado fast bis ins Ziel die Sekunden klauten, 1989, als Greg LeMond mit acht Sekunden vor Fignon gewann, oder solchen, von perfider Hinterlist geprägten Duellen, wie sie sich die Teamkollegen LeMond und Hinault lieferten.
Statt dessen: der gebürtige Rostocker und sein treuer Däne. Ein Stück in zahlreichen Akten und mit einer Laufzeit, die jene von Agatha Christies „Mausefalle“ erreichen könnte, auch wenn die Besetzung der Nebenrolle vermutlich einer baldigen Änderung unterworfen sein wird. Einziger Trost für die Radsportfans: Die Tour wird künftig in Originallänge übertragen. Inklusive solcher Momente wie jener am Sonntag in den Alpen. Matti Lieske
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