Tote bei Protesten in Syrien: Ein Tag voller Blut und Wunden
Die Demokratiebewegung rief zum "Großen Freitag" des Protests auf. Zehntausende kamen und forderten den Sturz des Regimes. Das reagierte mit tödlicher Gewalt.
Es war der große Test, ob das syrische Regime friedliche Proteste zulässt, nachdem es diese Woche die seit einem halben Jahrhundert geltenden Notstandsgesetze aufgehoben hatte. Die tägliche wachsende Demokratiebewegung hatte für Freitag nach dem Freitagsgebet über die Facebook-Seite "Syrian Revolution 2011" zum "Tag des großen Protestes" aufgerufen - ein "Great Friday", in Anspielung auf "Good Friday", das englische Wort für den Karfreitag.
Zehntausende folgten - nicht nur im südsyrischen Deraa, wo die Proteste vor fünf Wochen begonnen hatten; nicht nur in Homs, das diese Woche die bisher größten Proteste erlebt hatte und den Versuch ähnlich wie am Tahrirplatz in Kairo, dort den Hauptplatz zu besetzen. Auch in Lattakiya, Banias, Hama und in den kurdischen Gebieten folgten Tausende dem Aufruf der Demokratiebewegung, und erstmals auch in der Innenstadt von Damaskus. Und anders als zu Beginn forderten sie nicht mehr das Regime zu Reformen auf, sondern verlangten dessen Sturz.
Das ist wohl der Grund, warum das Regime den Test nicht bestanden hat. Sowohl in Homs als auch in Duma, einem Vorort von Damaskus, und in der Umgebung Deraas haben Sicherheitskräfte das Feuer auf Demonstranten eröffnet. Bis zum frühen Nachmittag wurden über ein Dutzend Tote vermeldet.
Eine syrische Menschenrechtsanwältin bezifferte am Abend gegenüber der Nachrichtenagetur dpa die Zahl der Getöteten auf mindestens 35. Das teilte eine syrische Menschenrechtsanwältin mit. Allein in der südlichen Stadt Asraa sollen 18 Demonstranten ums Leben gekommen sein, als Heckenschützen auf Hausdächern das Feuer eröffneten. Sieben Menschen kamen bei Protesten in der Hauptstadt Damaskus ums Leben, weitere Opfer wurden aus mehreren anderen Städten gemeldet. Zahlreiche Demonstranten wurden verletzt, etliche davon sollen in kritischem Zustand sein.
Nie erlebte Mobilisierung
In der Hauptstadt Damaskus verteilte sich die Polizei und die Staatssicherheit in einer bisher noch nie erlebten Mobilisierung auf allen strategischen Plätzen. Auf den Zufahrtsstraßen zur Stadt hatte das Militär Checkpoints aufgestellt, prüfte die Identität der Reisenden und durchsuchte Autos nach Waffen. Trotzdem versammelten sich im Bezirk Midan nahe der historischen Altstadt nach dem Freitagsgebet rund 2.000 Protestierende, die in Sprechchören die Absetzung des Regimes forderten.
Sicherheitskräfte feuerten Tränengas in die Menge, doch die Demonstranten sammelten sich erneut in kleinen Gruppen, um die Proteste fortzusetzen.
Die Forderungen der Demonstranten werden immer expliziter. Eine neue Oppositionsgruppe "Lokale syrische Organisationskomitees" hat jetzt erstmals schriftliche Forderungen vorgelegt. In ihrer Erklärung heißt es, dass sie "nichts weiter als die schnelle Umgestaltung der nationalen Institutionen" wollen.
Konkret fordern sie ein Ende von Folter, staatlich sanktioniertem Mord und Gewalt gegen Demonstranten, eine dreitägige Staatstrauer für die Opfer der vergangenen Wochen und eine unabhängige Kommission, die die Gewalttaten aufklären soll. Zudem solle die Regierung alle politischen Gefangenen freilassen und eine Verfassungsreform ausarbeiten, die die Amtszeit eines Präsidenten auf zwei Legislaturperioden beschränkt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
James Bond
Schluss mit Empfindsamkeit und Selbstzweifeln!
Nachtcafé für Obdachlose
Störende Armut