: Tonnenweise Müllgebühren
VON HANNA GERSMANN
„Schatz, bringst du noch den Müll raus?“ Wem stinkt eine solche Aufforderung nicht, genau genommen der Abfall selbst? Dabei ist der kostbar. Und seine Entsorgung wird in den nächsten Monaten noch teurer. Das sagt jedenfalls Holger Alwast vom Marktforschungsunternehmen Prognos voraus: „In manchen Regionen sogar um fünfzig Prozent.“ Besonders hoch werde der Preisanstieg dort sein, wo der Müll bislang auf der Deponie landet.
Das hängt mit einer neuen deutschen Verwaltungsvorschrift des Bundes, der Technischen Anleitung Siedlungsabfall (TASi), zusammen, die am 1. Juni in Kraft tritt. Kaffeefilter, Geschenkpapier oder ausgediente Staubwedel dürfen dann nicht mehr einfach so auf die Kippe. Sie müssen vorbehandelt werden – kompostiert, getrocknet oder verbrannt. Auch die Umweltstandards für die Deponien selbst werden strenger. Das ist teuer. Und es zahlt: der Verbraucher.
Experten aber zeigen sich euphorisch. Umwälzender als das Dosenpfand sei die Neuregelung, so epochal wie die Einführung des Katalysators. Tatsächlich haben Bundestag und Bundesrat mehr als zwölf Jahre debattiert, zig Referenten gearbeitet, jeder Interessenverband seine Bedenken eingebracht. Das Aus für Müllkippen kommt also nicht überraschend – und auch sicher nicht zu früh. Denn Deponien setzen wie eine Kuh beim Wiederkäuen klimaschädigendes Methan frei, wenn die organischen Abfälle ohne Sauerstoff verrotten. Explosionen sind möglich. Das größere Problem aber: Methan wirkt 24-mal so stark als Treibhausgas wie das berüchtigte Kohlendioxid. Zudem können Deponien das Grundwasser belasten, wenn Schadstoffe, etwa aus alten Textilien oder Schuhen, auslaugen. Deshalb müssen nun 200 von derzeit 300 Deponien schließen. Das macht Abfallentsorgung zurzeit günstig wie nie.
Unternehmer, die ihre Löcher noch füllen müssen, locken mit Schnäppchenpreisen. Schließlich ist die Ware knapp: Die Deutschen produzieren seit Jahren ungefähr gleich viel Müll, 400 Kilo pro Jahr und Kopf. Doch landet davon immer mehr in der Biotonne oder im Glas- und Papiercontainer. Da nehmen die Deponiebetreiber nun, was sie kriegen können. Happy hour auf den Kippen.
Dreckfuhren etwa aus Bayern und Baden-Württemberg werden durch die ganze Republik gekarrt, meist in den Osten. Denn dort ist die Entsorgung besonders günstig. Bestes Beispiel ist die Abfallwirtschafts GmbH Halle-Lochau im ehemaligen Braunkohletagebau in Sachsen-Anhalt, das „billigste Loch“ Deutschlands, wie es in der Branche heißt.
Die ist ansonsten verschwiegen. Nur so viel lässt sich Stephan Harmening, Geschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Entsorgungswirtschaft (BDE), entlocken: Eine Tonne Müll wird dieser Tage für weniger als 30 Euro entsorgt. Zum Vergleich: In einer modernen Deponie müsste das mindestens 100 Euro kosten, in einer Müllverbrennungsanlage um die 400 Euro.
Deutschland ist das Billigparadies auch fürs Ausland. Denn außer in Polen gibt es in allen Nachbarländern staatliche Deponiegebühren: 50 Euro pro Tonne zum Beispiel in den Niederlanden und in Österreich. Die Bundesregierung erhebt sie nicht, sie debattiert sie lediglich seit Jahren.
Das schmutzige Geschäft läuft aber vor allem deshalb gut, weil mit einem Trick gearbeitet wird: der „Müllwäsche“. Normalerweise verbieten die Betriebsgenehmigungen die Beseitigung importierten Mülls. Doch fast überall stehen neben den Deponien spezielle Sortieranlagen. Die wiederum dürfen Müll aus Holland oder Italien annehmen, zur Verwertung. Dann wird ein wenig sortiert. Es bleibt ein großer Rest, der – nun deutsch – ganz offiziell auf die Kippe darf. „Bei Müll geht es eben nicht um Vernunft oder Ökologie“, resümiert Jürgen Hahn vom Umweltbundesamt.
Dass es beim Müll in Deutschland aber zugeht wie bei Hempels unterm Sofa, hat eigentlich nie jemand beabsichtigt. Die Politik dachte sogar, alles wäre geklärt. Denn bereits seit 1993 gilt die Pflicht, Müll vor der Ablagerung zu behandeln. Nur ein paar Ausnahmen sollten zugelassen werden. Diese wurden aber zur Regel – bis heute. Nun sind Städte und Kreise nicht vorbereitet, weil sie ewig blockiert haben. Der Deponiezweckverband Eiterköpfe in Rheinland-Pfalz etwa klagte bis zum Europäischen Gerichtshof, um zu den Zeiten vor 1993 zurückzukehren. Er scheiterte endgültig erst in diesem April.
Das Problem ist: Ab 1. Juni wird es richtig teuer. „Die Kapazitäten, um den Müll zu verheizen oder zu kompostieren, werden hinten und vorne nicht reichen“, sagt Prognos-Mann Holger Alwast. Seine Rechnung: 30 Millionen Tonnen Müll fallen im Jahr in deutschen Haushalten und Unternehmen an. Aber nur für 25 Millionen Tonnen gibt es Entsorgungkapazitäten. Das Bundesumweltministerium konstatiert etwas verhaltener: „Ein kurzzeitiger Entsorgungsengpass ist daher gegenwärtig nicht auszuschließen“.
Der macht sich grundsätzlich dort bemerkbar, wo der Müll bisher auf der Halde landete, sagt Beate Kummer von Haase & Naundorf Umweltconsulting in Osnabrück. Sie stützt sich auf eine unveröffentlichte Untersuchung durch ihr Büro. Danach sind besonders schlecht gerüstet: Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt. Die Länder werden voraussichtlich Zwischenlager anlegen müssen. Rund 100 Deponiebetreiber haben schon eine Ausnahmegenehmigung beantragt.
Dabei zahlen die Bürger schon jetzt viel für eine umweltgerechte Müllentsorgung. Zwar sind die Gebühren regional sehr unterschiedlich, in der Stadt zumeist höher als auf dem Land. Bundesweit wurden mit dem Müllgeld in den vergangenen Jahren aber insgesamt schon 8,5 Milliarden Euro in den Bau von Müllverbrennungsanlagen investiert. Schließlich wurden in den Neunzigerjahren – oft roch es nach Korruption – völlig überdimensionierte Müllöfen gebaut. Die dürfen nun auf eine bessere Auslastung hoffen. Aber es müssen noch mehr werden. Und Hightech mit mehrstufiger Abgasreinigung kostet – etwa 500 Euro pro neu gebauter Tonne Kapazität. Eine Preisklasse darunter liegen die mechanisch-biologische Anlagen: bis nächstes Jahr werden 1,6 Milliarden Euro verbaut sein. Der Verbraucher wird so gleich zweimal zur Kasse gebeten: zuerst für den Bau, später für die höhere Entsorgungsqualität.
Für Unternehmen ist das ein gewaltiger Markt mit einem Umsatz von bis zu 36 Milliarden Euro im Jahr. Er ist eine Nummer zu groß für viele der rund 1.000 mittelständischen Betriebe, die sich in der Tradition eines Schrotthändlers bislang um die Entsorgung kümmern. Jüngstes Opfer: Herhof-Umwelttechnik mit 150 Mitarbeitern. Die hessische Firma musste im März beim Amtsgericht Wetzlar Insolvenz anmelden. Sie hatte neun Ausschreibungen für Müllbehandlungsanlagen gewonnen, die im Juni in Osnabrück, Trier und an mehreren Standorten in Nordhessen in Betrieb gehen sollten. Aber sie schaffte die Vorfinanzierung nicht.
Die neue Vorschrift stärkt indes die Großen wie Remondis, Cleanaway und Alba. Längst haben sie sich in Polen oder Tschechien eingekauft. Dort ist es ab Juni dann vergleichsweise billig. Nun warnt Umweltstaatssekretär Rainer Baake vor einem neuen Mülltourismus: „Exportgenehmigungen in Länder mit Billigdeponien darf es nicht geben“. Dafür zuständig sind aber die Bundesländer.
Das Geschäft mit dem Abfall ist jedenfalls härter denn je. Dabei sind die neuen Vorschriften nur der erste Schritt. Geht es nach Rot-Grün, sollen im Jahr 2020 Deponien ganz verboten werden. Technisch sei das machbar, so Baake. Was aus der Müllverbrennungsanlage der nächsten Generation noch herauskommt? Strom und Wärme, Gips und Salzsäure als Rohstoffe, Schlacken als Baustoff und Eisen und Nichteisenmetalle als Schrott. Utopisch ist das nicht. Die Müllverwertungsanlage Rugenberger Damm, die der Vattenfall-Konzern unmittelbar neben Hamburgs Köhlbrandbrücke bauen ließ, schafft das schon jetzt.
Dahinter steckt ein ganz neues Abfallkonzept. Aus dem Mülleimer zu Hause wird ein Rohstoffsammler, Quelle einer lukrativen Verwertungsindustrie. Schon stecken auch Unternehmen wie die RWE-Umwelt Geld in neue, vollautomatische Sortiertechniken. Eines Tages sollen diese Roboter etwa den gelben Sack überflüssig machen, Abfälle besser trennen als der Mensch. Bislang gibt es dazu aber nur Modellversuche in Essen und Leipzig. So schnell wird sich an der grau-grün-blau-rot-gelben Tonnenvielfalt in deutschen Hinterhöfen nichts ändern. Die Deutschen bleiben vorerst Weltmeister im Mülltrennen.
Dabei hört sich im deutschen Kreislaufwirtschaftsgesetz alles so einfach an: „Abfall ist eine bewegliche Sache, deren sich der Besitzer entledigen will oder muss.“ Gab es da nicht noch ein anderes Ziel? Ach ja, den ganzen Müll vermeiden! Dafür allerdings fehlt der rot-grünen Bundesregierung eine sinnvolle Strategie. Dabei hätte weniger Dreck auch zu Hause einen klaren Vorteil. „Schatz, bringst du noch den Müll raus?“ würde man seltener zu hören bekommen – egal wie stark die Müllgebühren steigen.