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Tonia Reeh und Marla Hansen im HKWMusik blüht wie eine Blume

Die eine erzählt Geschichten, die andere beschreibt Seelenlandschaften: Tonia Reeh und Marla Hansen spielten ein Konzert im HKW in Berlin.

Verschwindet hoffentlich nicht gleich wieder: Marla Hansen Foto: Nura Qureshi

Auf dem Dach des Hauses der Kulturen der Welt steht am Freitagabend eine Frau mit einem schwarzen T-Shirt und raucht, als würde sie damit die Freiheiten eines Open-Air-Konzerts erst recht feiern. Auf dem schwarzen T-Shirt ist Patti Smith vom Cover ihres Debütalbums „Horses“ zu sehen, anstelle von Smith’ Gesicht ist jedoch das Konterfei der berühmten mexikanischen Künstlerin Frida Kahlo eincollagiert. Das kämpferische Element in der Kunst von Smith und Kahlo setzt sich auf der Bühne fort, wo die Berliner Pianistin und Sängerin Tonia Reeh gerade an einem geliehenen E-Piano dramatische Stimmen zu Gehör bringt.

Indem sie zunächst über die Tasten spurtet und dann wieder fordernde Akkorde wie Thesen in den Raum stellt, klingt Reeh mal wie eine angespitzte P. J. Harvey und dann wie ein Sukkubus aus dem Kartoffelkeller. Der Leiter der Abteilung Musik des HKW (und taz-Autor) Detlef Diederichsen kündigte Reeh auf der Bühne mit den Worten an: „Eine Frau mit vielen Stimmen.“ Diese Versprechen löst Reeh auch ein.

Nach einem Stück geht sie von der Offensive in die Defensive über und bittet das Publikum darum, sich für den nächsten Song doch bitte ein Schlagzeug vorzustellen, das normalerweise dann zu hören wäre, wenn Reeh mit ihrer Band La Tourette auftritt. In einer Woche wird die Berlinerin das neue Album „Future Kids“ mit La Tourette veröffentlichen. Am tropisch warmen Freitagabend setzt sie dann zu einem neuen furiosen Himmelhöllentastenlauf an, dem sich mühelos das jahrelange klassische Konditionstraining, aber auch die Emanzipation von diesem anhören lässt.

Reeh erzählt von einem „Motorcycle Boy“, von einem Jungen mit Motorrad, der uns wegblasen will. In den Liedern von Tonia Reeh passiert viel, immer wieder erleben ihre Figuren dramatische Abenteuer.

Jahrelang von der Bildfläche verschwunden

Mit der zweiten Künstlerin des Abends, Marla Hansen, liegt der Fall etwas anders. In den Nullerjahren veröffentlichte die New Yorkerin mit Wahlheimat Berlin bereits ihr Album „Wedding Day“. „Bald“, erklärt Hansen auf der Bühne an einer Stelle zwischen zwei Stücken, „schlug das Leben zu“. Für eine Weile verschwand die US-Amerikanerin von der Bildfläche. Ihre Lust am Musikmachen blieb bestehen, aber die Gelegenheiten zum Songschreiben wurden knapp. Sie lässt im Unklaren, was genau mit ihr geschah.

Hansen ging mit dieser Funkstille um, indem sie Lieder darüber komponierte, was für eine Herausforderung es bedeuten kann, Konzerte zu geben und neue Alben aufzunehmen, wenn beides nicht die Miete einbringt, aber trotzdem viel Zeit erfordert, die Hansen sonst zum Geldverdienen gebraucht hätte. So trägt sie am Freitagabend etwa auch das Stück „Path“ vor, welches sehr schön beschreibt, wie nervig es sein kann, Musik zu machen, noch nerviger allerdings, keine Musik zu machen. Spätestens in diesem Moment hat sie die im Abstand von anderthalb Metern stehenden ZuschauerInnen auf ihrer Seite.

Ob Hansen eine Viola wie eine akustische Gitarre zupft oder zur Gitarre wechselt, Musik blüht für sie mal wie eine Blume auf, die sich von jedem Windhauch umwehen lässt, und mal wie eine Menschenfleisch fressende Pflanze, die unberechenbar und herrisch in Liedern wächst und strotzt. Um den Alltag in Seelenlandschaften zu beschreiben, eignen sich temperierter Wohlklang ebenso wie atonale Schübe.

Hansen lässt sich davon auf der Bühne oben auf dem Dach des HKW mitreißen, wo am Freitagabend allmählich die Sonne hinter den Wolken wegsackte. Es blieb daher offen, ob Hansen über die Möglichkeiten der Musik gerade selbst staunt oder sich freut, weil in den 13 Jahren seit dem letzten Werk und dem neuen Album, “Dust“, ein Auftritt fast wieder wie ein Debüt wirkt.

Beeindruckendes Konzert

Der einzige Kritikpunkt an Hansen wäre, dass sie teils auch singt, als wäre die Musik eine schlafende Bluthündin, die nicht geweckt werden soll. Ihre Musik ist so schön, dass jeder Songtext manchmal fast störend wirkt. Diese Worte, die durch den Mund über die Lippen nach vorne geschoben werden sollen, halten davon ab, sich in den Harmonien ungestört zu suhlen. Worte tragen ein lästiges Gepäck mit sich herum, denn sie erfordern Konzentration, nicht nur für die Musik, die zu hören ist, sondern auch für den Menschen, der sie spielt. Weswegen Songtexte bei Hansen manchmal ganz entfallen und dann mit einer gewissen Regelmäßigkeit lautmalerische „Hu-hu-hu“s und „Ah-ha-ah“ s wie ein gesungenes Effektgerät in die Lieder eingeschleift werden.

Nichtsdestotrotz: ein beeindruckendes Konzert zweier singulärer Künstlerinnen an einem heißen Hochsommerabend, der der beliebten Reihe „Wassermusik“ gut steht.

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