Tom Rachmans Buch "Die Unperfekten": Abseits verlotterter Lügenbolde
Journalisten sind wandelnde Klischees - zumindest in vielen Filmen und Büchern. Der Autor Tom Rachman sieht bei der Beschreibung seines Berufsstands genauer hin.
Überall im Zimmer verteilt lagen zerknitterte Essenspackungen. Leere Hamburgerschachteln, Crackertüten. Vergilbte Zeitungen. Halbleere Dosen Fresca mit ertrunkenen Fliegen darin. Meine Kleidung - was davon übrig war - lag auf dem fadenscheinigen Teppich." So verlottert wie das Motelzimmer, in dem sich in James Siegels Krimi "Lügenspiel" ein abgehalfterter Exstarreporter verschanzt hat, stellt man sich gemeinhin die Biotope von Journalisten vor.
Siegels Protagonist, tief gestürzt, weil er angefangen hatte, Geschichten zu erfinden, ist wegen Recherchen gerade in großer Gefahr - was ausgerechnet ihm natürlich kaum jemand glaubt -, und jetzt muss er dummerweise zum ersten Mal seit zwei Wochen wieder die Tür öffnen, weil er das Zimmermädchen reinlassen muss, die endlich wieder sauber machen will.
Auch Tom Rachman, Jahrgang 1974, ist aufgefallen, wie derart klischeehaft Journalisten in Filmen und Romanen oft dargestellt werden, und das hat ihn schon deshalb gestört, weil er selber aus der Branche stammt. Sieben Jahre lang war er für die Nachrichtenagentur AP tätig, unter anderem in New York und Rom, außerdem war er 2006 für kurze Zeit Redakteur bei der International Herald Tribune in Paris.
Tom Rachman: "Die Unperfekten". Aus dem Englischen von Pieke Biermann. dtv, München 2010, 398 Seiten, 14,90 Euro
Sein Debütroman "Die Unperfekten" ist nun auch eine Reaktion auf all die Stereotype: Er erzählt die Geschichte einer in den 50er Jahren gegründeten internationalen Tageszeitung mit Sitz in Rom - und der Figuren, die das Blatt geprägt haben.
Nützliche Klischees
Die verbreiteten Klischees seien "teilweise deshalb entstanden, weil sie bei der Entwicklung eines Plots sehr nützlich sind", sagt Rachman. "Es ist praktisch, einen sympathischen Ermittler zu haben, der gewissermaßen dem Protagonisten eines Detektivfilms entspricht - und genauso praktisch, einen hassenswerten Bösewicht zu haben, speziell einen, der die Welt auf ruchlose Weise beeinflusst."
Neben dem Kämpfer für das Gute, wie ihn in "Good Night, and Good Luck" der gegen den Kommunistenfresser Joseph McCarthy kämpfende Nachrichtenmoderator Edward R. Murrow repräsentiert, und dem "Reporter des Satans" (Billy Wilder, 1951) nennt Howard Good, Professor in New Paltz und Autor von drei Büchern über Journalistendarstellungen im Film, noch einen dritten Typus: den Kriegsberichterstatter. Der ist nicht so leicht einzuordnen in das Gut-oder-Böse-Schema, weil ihn oft edle Motive antreiben, er im Strudel der Ereignisse dann schon mal seine moralische Orientierung verlieren und zum Zyniker werden kann.
Kriegsberichterstatter war einst auch der Schriftsteller Evelyne Waugh, der Tom Rachmans Lieblingsroman über Journalismus geschrieben hat: "Scoop", 1938 erstmals veröffentlicht und in Deutschland als "Der Knüller" und "Die große Meldung" erschienen. Offensichtlich basiert er auf Waughs Erfahrungen als Korrespondent der Londoner Daily Mail während der italienischen Invasion in Äthiopien im Jahr 1935.
Das Buch sei "nicht realistisch im engsten Sinne, weil es Elemente des Absurden enthält", sagt Rachman, aber bei seiner Arbeit habe es ihn allemal inspiriert. Speziell gilt das für das an absurden Momenten reiche Kapitel "Das Sexleben islamischer Extremisten", in dem ein Reporternovize in Kairo auf einen durchgeknallten Kriegsberichterstatter trifft - eine Begegnung, die dazu beiträgt, dass der Mann mit dem Berufswunsch Journalist am Ende doch lieber "Tierpfleger in einem Heim für exotische Tiere in Minnesota" wird.
Er hoffe, dass sein Buch ein Bild des Journalistenberufs biete, das "ehrlicher" sei als das verbreitete, sagt Rachman. Das einzige Klischee, auf das er nicht verzichten mag, ist, dass Journalisten ständig Probleme im Privatleben haben - wobei er allerdings mit dem Kniff aufwartet, dass es beim verschrobensten Burschen von allen, dem Korinthen kackenden Korrektor Herman Cohen, am besten läuft.
Ganz gewöhnliche Leute
Die Stärke von Rachmans Schilderungen besteht darin, dass auch die liebenswerten Typen unangenehme Seiten haben, und selbst bei jenen, die insgesamt unsympathisch wirken, entwickelt er Verständnis für ihre Probleme und Schrullen. "Die Wahrheit ist, dass Journalisten von eher profanen Fragen angetrieben werden, wie: Was gibt es zum Abendessen? Warum ruft sie mich nicht zurück? oder: Warum befördern die mich nicht?", sagt Rachman. "Sie sind ganz gewöhnliche Leute, gleichwohl ihre Arbeit von ihnen verlangt, sich mit den verheerendsten Themen einer Epoche zu beschäftigen." Das ist auch marketingstrategisch nicht verkehrt: Die Journalisten, die das Buch besprechen, finden sich und ihre Welt wieder in ihrem Buch, sie fühlen sich ernst genommen.
Das gilt auch für ihre allergrößte Angst, die Sorge um ihre Jobs. In "Die Unperfekten" wird die namenlose Zeitung ein halbes Jahrhundert nach der Gründung eingestellt. Als der Statthalter der Besitzerfamilie den Redakteuren das Ende verkündet, bringt einer aus Wut dessen Hund um. "Ich habe eine Menge Versammlungen miterlebt, auf denen zwar nicht der große Knall angekündigt wurde, aber Schritte in diese Richtung", sagt Rachman.
"Sowohl bei AP als auch bei der International Herald Tribune gab es regelmäßig Zusammenkünfte, die von einer speziellen Spannung geprägt waren: auf der einen Seite die feindselig gestimmten Journalisten, auf der anderen die oberflächliche Herzlichkeit der Manager, die versuchten, so zu agieren, als hätten sie durchweg gute Neuigkeiten zu verkünden, obwohl jeder wusste, dass es schlechte Neuigkeiten waren."
Die Filmrechte für "Die Unperfekten" hat Plan B Entertainment erworben, die Produktionsfirma von Brad Pitt. Rachmans Roman hat eine Struktur, bei der die Umsetzung als Episodenfilm offenbar schon mitgedacht war. Sein favorisierter Journalistenfilm ist "Die Unbestechlichen" ("All the Presidents men"), die Aufarbeitung der Watergate-Enthüllung - obwohl der auch Schwächen habe, wie Rachman findet. "Nur wenige Reporter stoßen jemals auf eine Geschichte von derartiger Bedeutung, in dieser Hinsicht ist der Film ungenau und glamourisiert den Beruf."
In Deutschland untrennbar verbunden mit der Darstellung von Journalisten im Film ist der Name Helmut Dietl. Von dem hat Rachman verständlicherweise noch nie gehört. Aber wenn man die Passage vor Augen hat, in der der Verlegerhund büßen muss, kann man sich vorstellen, dass der Brite Dietls die in ihrer Groteskheit glaubwürdigen Medienmenschenfiguren mögen wird: vom schmierigen Reporter Hermann Willié (Götz George) in der Hitler-Tagebuch-Skandalsatire "Schtonk!" bis zum Programmdirektor eines Privat-TV-Senders (gespielt von Harald Schmidt in "Late Show").
Ursprünglich hatte Rachman gar nicht geplant, seine Geschichte im Journalistenmilieu anzusiedeln. "Ich hatte bereits einige Charaktere und Storylines im Kopf, als mir klar wurde, dass der Newsroom einer Zeitung das ideale Setting ist." Aus einem einfachen Grund: weil dort das Private und das Politische aufeinanderprallen lassen, man also historisch-gesellschaftliche Entwicklungen und persönliche Befindlichkeiten vermischen kann.
Nachruf auf eine Branche
Weil die Zeitung am Ende eingestellt wird, lässt sich Rachmans Buch als Nachruf lesen. Man kann sich von der teilweise liebevollen Art, wie er die Zeitungsbranche beschreibt, aber auch zu der optimistischen Prognose verleiten lassen, dass doch noch nicht alles vorbei ist. "Für viele Leute, vor allem in abgelegenen Gegenden, ist die Zeitung die einzige Verbindung zur großen Welt, zu den Großstädten, aus denen sie weggezogen sind, oder den Großstädten, die sie nie gesehen, sondern nur im Kopf konstruiert haben.
Leser bilden eine Art Gemeinde, sie kommen zwar nirgends zusammen, aber sie werden zusammengehalten von geliebten und verhassten Autorennamen, von vermasselten Bildunterschriften, vom ruhmreichen Kasten mit den Berichtigungen." Das denkt Herman Cohen, der Korrektor, in einer der zentralen Passagen des Romans: eine wehmütige Erinnerung an die Bedeutung, die Zeitungen mal hatten, aber auch eine implizite Aufforderung, sich auf diese Stärken zu besinnen.
Allemal offen bleibt die Frage, was eigentlich mit den fiktionalen Journalisten passiert, wenn die reale alte Medienwelt untergeht: Wie lange werden die verlotterten Lügenbolde noch überleben - und wie schnell wird die neue Medienwelt neue Stereotype hervorbringen?
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