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Tokio Hotel beginnen EuropatourHonig, Senf und Schlafmasken

Zum zwanzigjährigen Bandjubiläum von Tokio Hotel beginnt die Europatournee der kajalumrandeten Emoscreamer. Höchste Zeit für eine Lobpreisung.

Barockes Tokio Hotel bei einem Konzert in München, Bill Kaulitz auf dem Sockel Foto: Stefan M. Prager/imago

Die Kaulitz-Zwillinge Bill und Tom packen ihre Koffer in L. A. und nehmen mit: Honig, Schlafmasken, ein eigenes Kopfkissen, einen Raumluftbefeuchter und Schlaftabletten. In Deutschland angekommen, werden Georg und Gustav eingesammelt, bevor es dann als Tokio Hotel auf große Europatournee geht.

Neunzehn Shows in zwölf Ländern stehen auf dem Programm. Sieben Shows spielen sie in Deutschland. Tourauftakt ist heute Abend in Ludwigsburg. Einen Monat ist die Band für die seit Monaten restlos ausverkaufte Tour unterwegs – eine Konzertreise, bei der sie seit Jahren erstmals wieder in größeren Hallen spielen.

Begonnen hat das weltweite Phänomen Tokio Hotel im Sommer 2005: Unerwartet landete die Debütsingle „Durch den Monsun“ auf Platz 1 der deutschen Singlecharts und hielt sich dort fünf Wochen. Vom Schulbus ging es für die damaligen Teenies in den Tourbus.

Fotoshootings statt Hausaufgaben

Statt Hausaufgaben und Sportunterricht folgten Konzerte, Interviews, Fotoshootings, später auch unzählige Preisverleihungen. ­Tokio Hotel tourten quer durch Europa, füllten Stadien und verkauften schon von ihrem Debütalbum, das in Deutschland auf Platz 1 chartete, mehr als andert-halb Millionen Einheiten. Der Sound war melodischer Emorock, leicht grungy, die Songtexte gefühlig und persönlich, mit rebellischem Unterton. Meist ging es um Liebe, das Erwachsenwerden, Freundschaften und den Wunsch nach Unabhängigkeit.

Tokio Hotel live

Tokio Hotel live: 4. März 2025 „MHP Arena“ Ludwigsburg, 6. März 2025 „Jahrhunderthalle“ Frankfurt aM, 7. März 2025 „Palladium“ Köln, 21. März 2025 „Haus Auensee“ Leipzig, 22. März 2025 „Swiss Life Hall“ Hannover, 27. März 2025 „Uber Eats Hall“ Berlin, 28. März 2025 „Inselpark Arena“ Hamburg, wird fortgesetzt

Tokio Hotel inszenierte sich nicht nur als Band, sie wurden zu Teenie-Idolen einer Generation. Immer begleitet von kreischenden Mädchen, die vor Konzerthallen übernachteten und ihre Jugendzimmer mit dem geschminkten Gesicht von Bill Kaulitz und Co. plakatierten. Für manche Mädchen war die Band ein Lifestyle. Sie folgten dem Tourbus und campten vor den Wohnsitzen der Zwillinge. Grenzenloser Groupie-Wahnsinn made in Magdeburg.

Doch neben der überbordenden Fanliebe erfährt die Band auch viel Hass. Bill Kaulitz, der als geschminkter Mann die binären Geschlechtergrenzen verwischt, ist zu polarisierend für die deutsche Gesellschaft der nuller Jahre. Die Baseballschläger-Nazis im Osten hassen ihn ebenfalls.

Durchbruch mit „Scream“

[Link auf Beitrag 7227891]Leider läuft Tokio Hotel damals weder im Hitradio, noch treten sie bei Rockfestivals auf. Nach zwei Jahren im Musikbiz erscheint 2007 mit „Zimmer 483“ ein zweites Album, gefolgt von „Scream“, einer englischen Version mit ausgewählten Songs der Vorgänger. Damit gelingt den Boys der Durchbruch in den USA und sie gewinnen 2008 bei den MTV Music Awards den Preis in der Kategorie „Best New Artist“. Danach dürfen sie sich in einer Reihe mit Künstler:innen, wie Nirvana, Eminem und Alicia Keys einreihen.

Es folgt eine Tournee durch Europa, Nordamerika und Mexiko. 2009 erscheint das dritte Album, „Humanoid“, gesungen wird wieder auf Deutsch sowie auf Englisch. Das Werk erreicht wie auch „Zimmer 483“ und „Schrei“ erneut die Pole­position der deutschen Albumcharts und klettert bis auf Platz 35 der US-Albumcharts. Außer in Europa, Nordamerika und Mexiko spielen Tokio Hotel nun auch in Südamerika, Asien, Russland und Belarus. Nach fünf Jahren kann die Band auf mehr als 110 nationale und internationale gewonnene Preise, mehr als sieben Millionen verkaufte Alben weltweit und Platin-Auszeichnungen in 68 Ländern zurückblicken.

Auf der Flucht vor Stalkern

Der Welterfolg hat seinen Preis. Verfolgt von Stalkern flüchten Bill und Tom 2010 nach Los Angeles. Vier Jahre hört man nichts von Tokio Hotel, bevor sie einen musikalischen Neuanfang wagen. Die darauf folgenden Alben „Kings of Suburbia“ (2014) und „Dream Machine“ (2017) läuten die musikalische Wende ein und erscheinen ausschließlich als englische Fassungen.

Statt gitarrenlastigem Emorock ist „Kings of Suburbia“ ein Album, das musikalisch von elektronischen Beats, Synthiepop und Dubstep-Einflüssen geprägt ist. Der Sound ist angepasst an eine Zeit, in der Großraum-Dubstep- und Brostep-DJs wie Skrillex angesagt waren. Die Musik von Tokio Hotel hinterlässt Ende der zehner Jahre den Eindruck, dass der kommerzielle Erfolgsdruck als Katalysator diente. Dennoch geht die Band auf Welttournee, aber mit einem entscheidenden Unterschied: Statt Stadien füllen die Jungs aus Magdeburg nur noch Clubs und kleinere Säle. Der Megahype scheint vorbei.

„Dream Machine“ (2017) ist das erste in Eigenregie produzierte Album von Tokio Hotel und damit ein Befreiungsschlag von äußeren Einflüssen und von mächtigen Produzenten. Sanfte Melodien gemixt mit elektronischen Beats und Synthpop erzeugen verträumte, teils melancholische, atmosphärische Stimmungen. Die Musik ist weniger Mainstream und der Sound wirkt persönlicher.

2022 veröffentlicht Tokio Hotel das sechste Studioalbum „2001“, es enthält wieder schnellere Nummern, stilistisch geht es munter durcheinander, Pop- mit Elektronikelementen sowie vereinzelte rockige Sounds, die an frühere Alben erinnern. An die früheren Welterfolge kann die Band damit jedoch nicht anknüpfen. Keines ihrer Alben erreichte wieder Platz 1 der deutschen Albumcharts, in die Top Ten schaffen sie es aber dennoch. Und auch ihre Tourneen spielen sie in Deutschland in kleinen ­Locations.

Podcast aus Kalifornien

In den letzten Jahren veränderte sich das Image der Band stark. Dazu beigetragen hat wohl auch die verstärkte Medienpräsenz von Bill und Tom, die seit 2021 in ihrem Podcast „Senf aus Hollywood“ pikante Details aus ihrem Privatleben ausplaudern und so wieder mehr Aufmerksamkeit erlangten und ihren Weg zurück in die Entertainment-Branche fanden. Weiter spielte wohl auch die Ehefrau von Tom, Modelmama Heidi Klum, eine Rolle, die die Singles „Melancholic Paradise“ (2019) und „White Lies“ (2021) zu Titelmelodien ihrer Casting-TV-Show „Germany’s Next Topmodel“ machte.

2023 traten Tokio Hotel dann erstmals auf deutschen Festivals auf. Weiter veröffentlichten sie diverse Features mit deutschen Künstler:innen, wie mit der Indie-Rockband Kraftklub, der Sängerin Nina Chuba und dem DJ ­Niklas Dee. Vom einst polarisierenden Außenseitern haben sie sich in Deutschland zu Mainstream-Stars gewandelt. Ihre Musik läuft längst im Radio. Tokio Hotel sind heute als Künstler in Deutschland akzeptiert. Doch wer hat sich eigentlich mit wem versöhnt? Deutschland mit Tokio Hotel? Oder Tokio Hotel mit Deutschland?

Egal. Denn eines ist wirklich bemerkenswert: Die Teenie-Idole von einst sind nach 20 Jahren im Musikbusiness immer noch vereint – und sie füllen wieder größere Hallen. Gekreischt wird also immer noch. Und das soll ihnen erst mal jemand nachmachen.

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