: Todesschreie in der Kuppel
Detektivarbeit im Schauspielhaus: Hans-Peter Litscher fahndet nach Spuren der 2000 gestorbenen Maria Magdalena Brettschneider ■ Von Petra Schellen
Kopf oder Zahl? Leben oder Tod? Oder ist Sterben dasselbe wie Geborenwerden, nur rückwärts? Maria Magdalena Brettschneider könnte es so empfunden haben, waren doch ihr ganzes Leben lang Leben und Tod, Realität und Spiel eng verbunden: 99 Jahre lang hat die adoptierte Tochter des Pförtnerehepaars Brettschneider im Schauspielhaus gelebt, Spuren und doch wieder keine hinterlassen – und den Stoff für eine Geschichte gewoben, die, wäre sie nicht echt, hätte erfunden werden müssen. Aber vielleicht ist sie das ja auch....
„Angefangen hat alles mit einem Buch“, erzählt Hans-Peter Litscher, Schweizer Künstler, Geheimniskrämer und Spurensucher, der in den vergangenen Monaten im Schauspielhaus recherchierte. „Eigentlich war Brettschneider die Tochter einer Schauspielerin und eines Hamburger Reeders“, sagt er. „Aber da der Skandal nicht ruchbar werden sollte, hat der damalige Intendant die Adoption des am 28. April 1901 geborenen MÄdchens arrangiert und ihr ein lebenslanges Wohnrecht im Schauspielhaus verschafft.“ Als Zimmermädchen habe Brettschneider im Hotel Reichshof gearbeitet und im Übrigen jede Sekunde im Theater verbracht. „Dass sie fast jede Aufführung gesehen hat, ist keine Übertreibung.“ Sie sei eine „gute Seele“ des Hauses gewesen, die den Schauspielern Tinkturen gegen Lampenfieber, Achselschweiß und Halsschmerz verabreichte.
Umso spektakulärer war ihre Vorliebe für Todesszenen, die sie – teils als eigene Notizen, teils als eingeklebte Textstellen – in einer Kladde mit dem Titel Die 1000 Tode der Maria Magdalena Brettschneider, dokumentierte;, die im vorigen Jahr bei Renovierungsarbeiten gefunden wurde; es finden sich auch reale Traueranzeigen darin. „Ihr Leben lang changierte die Brettschneider, die einen sicheren Blick für gelungene Aufführungen hatte, zwischen Spiel und Realität. Sie spielte mit der verschwimmenden Grenze zwischen echtem und gespieltem Tod; vielleicht war ihr diese Vorliebe schon durch die Tatsache in die Wiege gelegt, dass sie während der Aufführung von Wallensteins Tod geboren wurde“, sagt Litscher sphinxgleich. Gestorben sei sie am 13. Juli 2000 während der letzten Vorstellung von Christoph Marthalers Die Stunde Null.
Litscher liebt solche Geschichten, liebt es, durchs halb-sichtbare Spurengewirre zu stapfen: „Die meisten Intendanten wussten von ihrer Existenz und duldeten sie. Einige wollten ihr allerdings das Haus verbieten, und dann... hat das Personal eben einen Weg gefunden, sie zu verstecken. Ene Zeit lang hatte sie zum Beispiel ein Klappbett in der Statistengarderobe.“
A propos Möbel: Auch diese Facette ihres Lebens war theaterbestimmt und fetischnah – oder wie sonst soll man es nennen, dass sie Möbel aus Lieblingsstücken aus der Requisite in ihre Räume holte? Wie sonst es deuten, dass sie Gründgens' Faust-Kappe hortete und so einen Kosmos materialisierter Erinnerungen schuf? Und wie anders als archaisch – oder subtil ironisch – soll man die Tatsache interpretieren, dass Brettschneider Theateräxte, Degen und Giftbecher um sich herum verteilte, um sich bei ihrem Anblick in die zugehörigen Szenen zu vertiefen?
„Alle, die sie kannten, sagen, sie sei angenehm im Umgang und eine aufmerksame Zuhörerin gewesen“, freut sich Litscher. „Die Angestellten mochten sie, auch die Schauspieler, die jederzeit bereit waren, ihr im Treppenhaus nochmal diese oder jene Todesszene vorzuspielen. Sie muss begeisterungsfähig wie ein Kind, aber nicht kindisch gewesen sein, und viele schätzten sie als Geschichtenerzählerin.“ In der Loge von Gründgens habe sie „Hof gehalten“, wie Litscher es nennt, und sich wohl auch nochmal die eine oder andere Würgeszene vorspielen lassen... Dabei habe sich Brettschneider durchaus auch mit der Theorie des Theaters auseinandergesetzt, Lessings Hamburgische Dramaturgie und Aristoteles' Theatertheorie gelesen, der zufolge Theater „Furcht und Mitleid“ erwecken sollte. „Sie hat“, verrät Litscher, „schon gewusst, wie Theater funktioniert.“ Und ob bewusst ironisch oder schlicht naiv – das Ihrige dazu beigetragen, indem sie den Schauspielern ein besonderes Utensilium schenkte: „Sie hat Taschentücher mit den Worten ,Furcht' und ,Mitleid' bestickt und sie den Schauspielern geschenkt; Gründgens soll eins mit ,Furcht', Wildgruber eins mit ,Mitleid' geschenkt bekommen haben.“ Ein Beweis für die romantische Veranlagung der Brettschneider? Man kann sie nicht mehr fragen. Man kann nur noch ein Letztes tun, wie sie es tat: sich wie der Glöckner von Notre Dame in die Kuppel des Schauspielhauses setzen und sich die Bänder mit den Todesschreien anhören, die Brettschneider mit einem Tonmeister jahrzehntelang heimlich mitgeschnitten hatte. ..
Führungen mehrmals wöchentlich; „Premiere“: Sonnabend, 18 Uhr, weitere: Sonntag, 16 Uhr sowie Dienstag, Mittwoch, jeweils 18 Uhr; Treffpunkt: Schauspielhaus, Café Ellmenreich
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