Tod von Cemal Altun: „Dieser Fall war einmalig tragisch“
Heute vor 30 Jahren nahm sich der türkische Flüchtling Cemal Kemal Altun mit einem Sprung aus dem Gerichtssaal das Leben. Wolfgang Wieland (Grüne) war Altuns Anwalt.
taz: Herr Wieland, wieso gibt es nach 30 Jahren noch eine Gedenkveranstaltung zum Schicksal von Cemal Altun?
Wolfgang Wieland: Weil dieser Fall einmalig tragisch war. Ein anerkannter Flüchtling wurde denunziert, und die deutsche Justiz hat seinen Asylantrag nicht etwa zügig bearbeitet, sondern dem Verfolgerstaat mitgeteilt: „Hier ist jemand, der könnte für euch interessant sein.“ Die türkische Regierung hat direkt einen Auslieferungsantrag gestellt. Cemal Altun kam in Einzelhaft nach Moabit. Monatelang. Bis er am Ende so von den Mahlsteinen der Justiz zerrieben war, dass er den Freitod wählte.
Hat man aus dem Fall gelernt?
Ein Auslieferungsverfahren mit dieser Dramatik gab es danach nicht mehr. Das Schicksal von Cemal Altun hat sicher abgeschreckt. Dabei hat sich die Gesetzeslage nicht geändert. Rein abstrakt wäre es auch heute noch möglich, dass man einen anerkannten Asylberechtigten ausliefert. Die Sensibilität ist also enorm gestiegen, aber das macht Cemal natürlich nicht wieder lebendig.
"Plötzlich geht alles blitzschnell. Altun erhebt sich, wendet sich zu dem wenige Schritte entfernten geöffneten Fenster, springt auf die Fensterbank und in den Tod, bevor einer der Anwesenden überhaupt an ein Eingreifen denken kann." So schilderte Jürgen Gottschlich in der taz den Freitod von Cemal Kemal Altun am 30.8.1983 im Verwaltungsgericht am Bahnhof Zoo.
Es war ein spektakulärer Tiefpunkt deutscher Flüchtlingspolitik: Altun war vor der türkischen Junta geflohen und hatte in Berlin Asyl beantragt, weil man ihm Beteiligung an einem Mord unterstellte. Als das BKA das erfuhr, fragte es in der Türkei nach, ob kein Auslieferungsantrag gestellt werde - was prompt geschah.
Altun kam in U-Haft. Obwohl sein Asylantrag anerkannt wurde, wollte ihn die Bundesregierung ausliefern. In diesem Zusammenhang fand der Prozess statt.
Sie saßen im Verhandlungssaal, als Altun sich tötete.
Er saß zwischen den Dolmetschern und mir, die Verhandlung hatte noch nicht begonnen. Ich wunderte mich, warum er aufsteht. Dann waren wir alle wie erstarrt. Dieser Sprung in den Tod war ein Trauma für mich. Er war unvorhergesehen – in einer Situation, in der wir faktisch schon gewonnen hatten.
Welche Reaktionen löste der Suizid damals aus?
Es gab ganz viel Anteilnahme. Die hatte es aber auch schon gegeben, als er noch lebte. Das war ein Wettlauf gegen das Auslieferungsbestreben. Viele Institutionen wie die Internationale Liga für Menschenrechte oder Terre des Hommes haben im direkten Dialog mit der Bundesregierung den Kampf um die Freilassung geführt. Als sich dann die Nachricht von seinem Tod verbreitete, war das ein Schock. Der Trauerzug durch Kreuzberg wurde zur politischen Manifestation.
Im Zusammenhang damit entstanden neue Initiativen.
Ja, einige wie der Pfarrer Jürgen Quandt hatten sich sehr für Altun engagiert. Aufgrund dieser Erfahrung wollten sie im Nachhinein noch mehr leisten als individuelle Hilfe und schlossen sich zum Beispiel zu „Aysl in der Kirche“ zusammen.
Ist Asylpolitik immer noch ein wichtiges Thema für Sie?
Sicher. In der Fraktion beschäftige ich mich damit nicht, ich habe Kollegen, die dieses Thema abdecken. Aber mein persönliches Interesse brennt immer noch – Stichwort Hellersdorf. Solange wir politische Flüchtlinge in der Bundesrepublik so schlecht behandeln, muss man engagiert bleiben.
INTERVIEW: MILENA MENZEMER
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