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Archiv-Artikel

Tochter ohne Vaterland

AUS WUPPERTAL UND WINDHOEK ROBIN ALEXANDER

Für Mekondjo Nuukuawo begann das Exil schon, bevor sie geboren wurde. Im Dezember 1974 floh ihre schwangere Mutter mit ihrem zweijährigen Bruder an der Hand nachts über den Kunene-Fluss: aus dem Ovamboland, wo Krieg war, nach Angola, wo noch kein Krieg war. Drei Monate später und schon ein Land weiter wurde Nuukuawo im sambischen Flüchtlingslager geboren: ein Kind von zu vielen, mit ungewissen Chancen, am Leben zu bleiben.

30 Jahre später ist Nuukuawo eine Frau mit kräftigem Händedruck, die darauf besteht, geduzt zu werden. Sie begrüßt den ersten Sommertag des Jahres mit einem Glas Sekt und verteidigt ihre Stadt gegen üble Nachrede: „Wuppertal liegt nicht im Ruhrgebiet, das sag ich Auswärtigen immer wieder: Hier ist das schöne Bergische Land.“ In der Tat, strahlender als heute könnte die Sonne nicht scheinen über der blauen Wupper und den sie überspannenden grünen Stahlträgern der berühmten Schwebebahn. Von den Menschen hier sind so viele türkischer, tamilischer oder jugoslawischer Herkunft, dass sich auch nach einer Schwarzen niemand umdreht. Die Geschichte vom afrikanischen Flüchtlingskind, das zur fröhlichen Wuppertalerin wurde, könnte eine wunderbare sein. Und lange ist sie es gewesen.

Eine deutsche Kindheit

Der Grund, weshalb Nuukuawo im Exil geboren wurde, ist ihr Vater. Tangeni Andreas Nuukuawo hat seine Tochter Mekondjo genannt, weil der Name auf Oshiwambo „im Kampf“ bedeutet. Es war der Kampf gegen die Besetzung des heutigen Namibias durch Südafrika. Auf Kampf und Namen ist die Tochter stolz: „Mein Vater war ein Aktivist gegen die südafrikanische Apartheid.“ Nicht irgendeiner, sondern einer, der es bis zum Finanzchef der Befreiungsbewegung Swapo im Exil bringt. Bis er verhaftet wird. Nicht von den verhassten weißen Rassisten, sondern von den eigenen Leuten. Die Swapo, die auf Waffen aus der Sowjetunion angewiesen ist, übernimmt auch deren Mechanismen der inneren Säuberung gegen vermeintliche Abweichler. Die Swapo beschließt, dass die Tochter ihren Vater nie wieder sehen soll.

Sie wird auch von ihrer Mutter und ihrem älteren Bruder Deo getrennt. Das Mädchen kommt in ein Kinderheim – in der fernen Deutschen Demokratischen Republik. „Die Geschichte von den DDR-Kids kann ich überspringen, oder?“, fragt Nuukuawo, die beim Erzählen eine Gauloise an der anderen angesteckt hat und jetzt ein zweites Glas Sekt bestellt, „die dürfte ja mittlerweile bekannt sein.“ Es gibt Filme und Bücher über das Kinderheim im mecklenburgischen Bellin, in dem afrikanische Kinder zu Swapo-Pionieren erzogen wurden. DDR-Erzieherinnen kümmerten sich im Namen der internationalen Solidarität um 400 kleine Afrikaner, deren Eltern kämpften oder gefallen waren – oder das Recht auf ihre Kinder als angebliche Verräter verloren hatten.

Nuukuawo, die 1979 in die DDR gebracht wird, ist eines dieser Kinder und doch ein einzigartiger Fall: „Meine Eltern haben nie akzeptiert, ohne ihre Kinder leben zu sollen.“ Nuukuawos Vater wird nach zwei Jahren in tansanischen und sambischen Kerkern auf internationalen Druck freigelassen. Er holt seine Frau aus einem Ausbildungslager in Barbados. Bis in die Karibik hatte die Swapo Frieda Nuukuawo verbannt, weil sie sich nicht von ihrem Mann lossagte. Norwegen gewährt dem Paar Asyl, norwegische Menschenrechtler gründen ein „Komitee für Deo und Mekondjo“, um die Rückgabe der Kinder zu erzwingen. Und tatsächlich – fünf Jahre nach seiner Verhaftung darf Tangeni Andreas Nuukuawo seine Kinder im neutralen Stockholm abholen: Mekondjo, sechs, kommt aus der DDR. Deo, acht, sitzt in einem Flugzeug aus Angola.

Normalerweise stammen die ersten Erinnerungen von Menschen aus ihrem dritten oder vierten Lebensjahr. Nicht bei Nuukuawo: „Ich sehe nichts mehr aus den Lagern in Sambia vor mir und nichts mehr aus dem Heim in der DDR. In meinem Kopf beginnt mein Leben erst in Wuppertal.“ Es sind schöne Erinnerungen an eine aufregende, aber doch aufgehobene Kindheit: Erinnerungen an eine kleine Wohnung im Ölberg-Viertel, nahe der theologischen Hochschule. Erinnerungen an Ostermärsche. Die Familiengeschichte passt in die Hoffnungen des christlich-alternativen Milieus: der Kampf für die Befreiung der Dritten Welt ohne die Unmenschlichkeit des Kommunismus. Der Vater studiert, die Mutter ist Krankenschwester, die Kinder sind auf dem Gymnasium. Zu Hause wird diskutiert, geplant und geholfen. Das Leiden des namibischen Volkes ist tägliches Thema, das persönliche Martyrium nicht: „Ich durfte nie den nackten Rücken meines Vaters sehen. Dort hatte er Narben von Auspeitschungen.“

Die Narben gehören zur Vergangenheit. In der Gegenwart der 80er-Jahre ist das Mädchen Mekondjo, das mit deutschen Mitschülern Geburtstag feiert und Gastarbeiterkindern bei den Hausaufgaben hilft, ein Idealbeispiel für eine gelungene Integration. Und in der Zukunft? Da soll sie sich zwischen Namibia und Deutschland frei entscheiden können, meinen die Eltern. Sie glauben, alle Voraussetzungen geschaffen zu haben, damit ihre Tochter glücklich wird. Wo auch immer.

Zu den liebsten Erinnerungen Mekondjo Nuukuawos aus alten Wuppertaler Zeiten gehören Handballspiele. Noch heute sieht die Frau mit dem breiten Kreuz wie gemacht aus für diese harte Sportart. Aber sie hat seit Jahren keinen Handball mehr geworfen. Die Geschichte vom afrikanischen Flüchtlingskind, das zur fröhlichen Wuppertalerin wurde, endet 1990. Namibia wird unabhängig. Die Nuukuawos beantragen die Pässe des neuen Landes, um an den ersten freien Wahlen teilzunehmen. Doch die Eltern kehren allein nach Afrika zurück. Die Kinder bleiben in Deutschland.

Eine deutsche Jugend

Nuukuawo hat das Land, in das ihre Eltern zum ersten Mal seit 20 Jahren reisen dürfen, zu diesem Zeitpunkt noch nie gesehen. Ihre Entscheidung fällt für die Freunde, für die Schule, für Wuppertal. Eine schwere Entscheidung. „Ich hatte Schuldgefühle, weil ich in meiner kleinen deutschen Welt bleiben wollte und nicht in das freie Namibia, für das meine Eltern so viel geopfert hatten.“

Doch ohne die Eltern wackelt die kleine deutsche Welt. Nuukuawo bricht die Schule ab. In den späten 90ern, während ihre Freunde studieren, serviert sie Getränke in Golf-Hotels oder bei Schickeria-Partys. Damals verdient sie gut, aber viel mehr als die Angewohnheit, tagsüber Sekt zu trinken, ist ihr davon nicht geblieben. Auch Wuppertal ist nicht mehr dasselbe: Statt Dritte-Welt-Solidarität werden jetzt Lichterketten organisiert. Rassistische Gewalt ist nicht mehr nur ein ferner Schrecken aus Südafrika. Nach dem Asylkompromiss werden in Deutschland Abschiebeknäste gebaut. In einem sitzt bald ihr Bruder, der die falschen Freunde getroffen hat. Sie kann nicht glauben, dass Deo abgeschoben wird, bis ihn Polizisten tatsächlich in ein Flugzeug schaffen.

Keine deutsche Zukunft

Das Schicksal der Nuukuawo-Geschwister aus Wuppertal zeigt, dass auch eine gelungene Integration scheitern kann. Mekondjo Nuukuawo ruiniert ihren sportlichen Körper mit Kettenrauchen, Alkohol, Fressanfällen, schließlich bulimischem Speien. Lokalpolitiker und Freunde, die für ihre Einbürgerung kämpfen, enttäuscht sie mit mangelndem Engagement. Nach einem Handgemenge mit Polizisten wird sie 2002 wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt und Beamtenbeleidigung verurteilt. Im Prozess wird ihr eine Übersetzerin gestellt. Sie muss lachen.

Und sie weigert sich, die Strafe zu bezahlen. Aber sie schämt sich auch. „Ich habe mich dafür gehasst, dass ich ständig in Schwierigkeiten war – denn das war doch alles kleiner Scheiß gegenüber dem, was meine Eltern durchgemacht haben.“ Als sie endlich in Namibia anruft, sagt ihr Vater nur: Komm. Sie soll sich einen Monat in Windhoek erholen. Und bleibt zwei Jahre.

Windhoek, Namibia: 2003 zeigt Nuukuawo deutschen Freunden das harte, wüstengleiche Land, in dem sie sich selbst nur auf Besuch fühlt. Das Haus ihrer Eltern ist voller Kinder. „Ich hoffe, ihr besteht nicht darauf, dass ich euch alle meine Cousinen und Cousins einzeln vorstelle?“, sagt sie fröhlich. Und dann ernster: „Das sind die neuen Kinder meiner Eltern.“ Wer in Namibia einen Job hat, gibt Unterkunft, Essen und Schulgeld für viele. Ihr Vater tröstet sich damit, das Schicksal seiner Tochter sei typisch: „There are traurige Situationen when it comes to those born in exile.“ Die ihm gebliebenen deutschen Begriffe rutschen nur noch selten ins Alltagsenglisch. So könne es auch seiner Tochter gehen, hofft er. Irgendwann.

Um sich selbst wieder zu finden, versucht Nuukuawo ihr Verhältnis zu Vater und Vaterland zu klären. „Ich bin meiner Mutter uneingeschränkt dankbar, dass sie damals zu meinem Vater stand. Er hat sie da reingezogen. Wer sich politisch so engagiert, sollte keine Familie gründen“, sagt sie. Und Namibia? Ist schön, aber nicht ihr Land. Ihr Akzent enttarnt sie als Fremde. Nachdem sie eine Schale dicker Mopane-Würmer gegessen hat, der traditionellen Spezialität der Ovambos, schwellen ihr vom ungewohnten Eiweiß Arme und Beine an. Auch die namibische Politik, die Reden über die Vergangenheit unter Strafe gestellt hat, verursacht ihr Unwohlsein. Sie findet einen Job in einem deutschen Reisebüro und Freunde, die Deutsch sprechen. Ihren Vater erinnert das daran, wie er sich im Exil über jedes Treffen mit einem Landsmann freute.

Wuppertal, Deutschland, 2005: Nuukuawo ist zurück und trifft in der Fußgängerzone zufällig ehemalige Mitschüler. Kurze Umarmung. Hallo, alles klar? Bis nächstes Mal. Als wäre sie nie weg gewesen. Aber ihre deutsche Aufenthaltsgenehmigung ist erloschen, weil sie zu lange außer Landes war. Ihre Geldstrafe dagegen hat die Justiz verzinst. Was sie tun wird, wenn ihr Besuchervisum abgelaufen ist, kann sie nicht sagen.

Nuukuawo wirkt einsam, selbst wenn sie unter Freunden ist: „Meine Probleme wirklich verstehen können nur drei Menschen: meine Mutter, mein Vater und mein Bruder.“ Ohne die Familie, die sie mit sechs Jahren wiederfand, kommt Nuukuawo auch heute nicht aus. Aber das Land ihrer Familie ist nicht ihr Land. Die Hoffnung, Nuukuawo könne zwischen zwei Heimaten wählen, hat getrogen. Sie hat keine.