Thüringens VS nach dem NSU-Debakel: „Wir sind nicht James Bond“
Mit Stephan Kramer bekommt der thüringische Verfassungsschutz einen neuen Chef und einen neuen Auftrag - mehr Transparenz.
In Kramers Manuskript dürfte häufiger das Wort „neu“ auftauchen. Schon mehrfach sagte der 47-Jährige öffentlich, es brauche jetzt einen „Neustart“, einen „neuen Geist“, einen „ganz neuen Verfassungsschutz“. Es wird spannend, wie laut der Applaus der Belegschaft ausfällt.
Kramers Ernennung, sie ist ein Coup der rot-rot-grünen Regierung in Thüringen. Der Berliner, studierter Jurist ohne Abschluss, war lange Generalsekretär des Zentralrats der Juden, ein Linker und Lautsprecher, immer bereit für eine steile These. Seine Geheimdiensterfahrung: keine. Stattdessen warf Kramer dem Verfassungsschutz nach dem NSU vor, dort werde weiter „vertuscht, beschönigt und geschreddert“. Er also wird nun dessen Präsident in Thüringen.
Dreijährige Vakanz
Bei der Verbrechensserie des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ wurde der Thüringer Verfassungsschutz zum Sinnbild des Staatsversagens. Unter dessen Augen radikalisierten sich Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt und tauchten unter. Der Verfassungsschutz führte etliche V-Leute in ihrem Umfeld – trotzdem blieb das Trio fast 14 Jahre unentdeckt und ermordete mutmaßlich zehn Menschen. Der Thüringer NSU-Untersuchungsausschuss stellte dem Amt ein vernichtendes Zeugnis aus: Dessen Fehler ließen „gezielte Sabotage“ vermuten und seien ein „einziges Desaster“. Der damalige Präsident Thomas Sippel musste gehen. Sein Posten blieb vakant, dreieinhalb Jahre. Bis jetzt, zu Kramers Ernennung.
Seit dem NSU-Debakel ist die Forderung nach einer Reform des Verfassungsschutzes politischer Konsens, von der Linken bis zur CDU. Nur wie, das bleibt bis heute strittig. Weist Thüringen, weist Stephan Kramer den Weg?
Kramer sitzt wenige Tage vor seinem Dienstantritt in einem Café in Berlin-Kreuzberg, trinkt schwarzen Kaffee ohne Zucker. Er hat wenig Zeit, wie immer. „Mit mir wird es keine Kosmetik geben“, sagt er. Dem Verfassungsschutz stehe ein „Paradigmenwechsel“ bevor. Es gehe auch um seine Glaubwürdigkeit. „Und die werde ich nicht aufs Spiel setzen.“
Die Reformagenda
Kramers Reform hat bisher drei Punkte. Erstens soll der Geheimdienst offener werden, viel offener. „Wir sind nicht James Bond, wir brauchen keine unnötige Geheimniskrämerei mehr.“ Zweitens soll das Amt enger an die Zivilgesellschaft rücken: Kramer will mit Vereinen und Wissenschaftlern Informationen austauschen, gemeinsame Symposien abhalten. Und drittens, das Wichtigste: Der Verfassungsschutz soll neue Köpfe bekommen – Polizeikenner, Sozialwissenschaftler, Religionsexperten. Quereinsteiger, keine klassischen Geheimdienstler. Leute wie Kramer.
Nur: Geht das überhaupt, eine neue, bunte Offenheit, mit einem Nachrichtendienst? Schon der Punkt mit dem Personal dürfte schwierig werden. Das Amt hat ja bereits seine Mitarbeiter, viele mit Beamtenstatus. „Wer den neuen Weg nicht mitgehen will, wer versucht, zu torpedieren, der wird keinen Platz mehr haben“, sagt Kramer dennoch. Und: Sein Vorhaben liege auf Linie mit der politischen Führung in Thüringen. „Wenn man das nicht hätte haben wollen, hätte man mich nicht holen brauchen.“
Tatsächlich hat Rot-Rot-Grün in Thüringen die Reform des Verfassungsschutzes so weit vorangetrieben wie kein anderes Bundesland. Das Amt wurde ins Innenministerium integriert. Es darf Extremisten nur noch beobachten, wenn diese auch Straftaten begehen – nicht mehr schon, wenn diese nur eine Demo anmelden. Eine parlamentarische Kontrollkommission darf seine Akten einsehen. Im Haus sitzt nun ein unabhängiger „Controller“, ein früherer Staatsanwalt, der jede Observation auf ihre Rechtmäßigkeit hin prüft. Im Frühjahr dann ein bundesweites Novum: Rot-Rot-Grün ließ fast alle V-Leute abschalten. Und nun kommt Kramer.
Demnächst soll noch eine Expertenkommission das gesamte Amt durchleuchten. Kein Schritt erfolgt jetzt mehr ohne Kontrolle. Oder wie es Linken-Ministerpräsident Bodo Ramelow sagt: Ab jetzt gelte das Vier-Augen-Prinzip.
Geltende Regularien
Es ist eine Kampfansage an eine Institution, die vom Konspirativen lebt. Entsprechend kritisch beäugen jetzt die anderen Verfassungsschutzämter Thüringen. Man schaue „mit Neugier“ auf Kramers Dienstantritt, heißt es offiziell, ganz diplomatisch. Hinter vorgehaltener Hand aber ist von einer „Schaufensterpolitik“ Thüringens die Rede. „Es gibt“, bemerkt ein langjähriger Geheimdienstmitarbeiter, „geltende Regularien für den Verfassungsschutz und daran wird sich auch Thüringen halten müssen.“
Es ist vor allem die Abschaltung der V-Leute, die die anderen Ämter den Thüringern nachtragen. Bei jeder Gelegenheit verteidigt Hans-Georg Maaßen, Präsident des Bundesverfassungsschutzes, die Szeneinformanten als „unverzichtbar“. CDU-Innenminister drohten damit, den Informationsfluss an Thüringen einzuschränken. Und auch Bundesinnenminister Thomas de Maizière, CDU, nannte die Abschaltung die „exakt falsche Entscheidung“. Die V-Leute seien „unersetzbar“.
Ein gutes halbes Jahr ist seitdem vergangen. Hat sich Thüringen blind gemacht? Für Ministerpräsident Ramelow ist das „alles Propaganda.“ Der Verfassungsschutz sei „arbeitsfähig“, man pflege weiter den Austausch mit anderen Ländern. „Es gibt kein Sicherheitsrisiko. Das Sicherheitsrisiko war der alte Verfassungsschutz.“ Die Reform, sagt Ramelow, war nach dem NSU-Versagen alternativlos. „Eher sollten sich andere Bundes- und Landesminister fragen, warum sie ihre Verantwortung wegmogeln.“
Tatsächlich steht Thüringen mit seiner Reform allein da. Mehrere Länder trugen ihrem Verfassungsschutz strengere Regeln zur V-Mann-Führung auf. Aber eine Generalabschaltung? Nicht im grün-roten Baden-Württemberg, nicht im rot-roten Brandenburg, nicht im rot-grünen NRW. Und im Bund erhielt der Bundesverfassungsschutz gar 750 neue Stellen und wurde gestärkt, um Fälle an sich ziehen zu können.
Aktive rechtsextreme Szene
Und, fragt man dort, kann sich gerade Thüringen die Ausbremsung des Verfassungsschutzes leisten? Das Land hat bis heute eine der vitalsten rechtsextremen Szenen, die Zahl ihrer Gewalttaten steigt. Auch dort brennen Asylunterkünfte. In Weimar überfielen Neonazis am 1. Mai eine Gewerkschafterkundgebung, wie aus dem Nichts. In Hildburghausen trafen sich wenig später mehr als 1.500 Neonazis zu einem Konzert. In beiden Fällen wurden die Sicherheitsbehörden überrascht. Es war kein gutes Bild.
Thüringens SPD-Innenminister Holger Poppenhäger beteuert, den Rechtsextremismus „genau im Blick zu haben“, auch nach der Radikalreform. In Weimar wie Hildburghausen seien vor allem Neonazis aus anderen Bundesländern angereist. „Wir schauen nicht durch die Milchglasscheibe, die Aufklärung funktioniert weiter.“
Vielleicht auch, weil es noch ein Hintertürchen gibt. So können bei Terrorgefahr auch in Thüringen V-Leute weiter eingesetzt werden – aber nur mit dem Segen des Ministerpräsidenten. Es ist eine hübsche Pointe: Jahrelang wurde Bodo Ramelow als Linker selbst vom Verfassungsschutz bespitzelt; nun ist er Herr über dessen Spitzel. Eine Handvoll Informanten soll es tatsächlich weiter geben, vor allem wohl in der islamistischen Szene. Darüber reden will niemand. Nur so viel, sagt Ramelow: Leichtfertig V-Leute einsetzen werde er ganz sicher nicht.
Technische Aufrüstung
Ramelow genießt dabei die Unterstützung von Grünen und SPD. „Der Fall NSU hat gezeigt, wie extrem unzuverlässig die Quelle V-Mann ist“, sagt SPD-Innenminister Poppenhäger. „Es war daher richtig, alles auf Reset zu stellen.“ Und es gebe ja auch noch andere Mittel, um Extremisten im Auge zu behalten, bemerkt Poppenhäger. Er verschweigt nicht, welche: Ihm schwebe ein Verfassungsschutz mit mehr „technischem Know-how“ vor, mit jungen Spezialisten, „Digital Natives“.
Tatsächlich hat der Thüringer Geheimdienst bereits in aller Stille umgeschichtet – hin zu mehr technischer Überwachung. Man kann es am Haushaltsentwurf für 2016 ablesen. 713.000 Euro soll der Verfassungsschutz dort für „Informationstechnik“ erhalten, allein 460.000 Euro für den Neuerwerb von Geräten und Software. Noch 2014 betrug der Gesamtposten nur 332.000 Euro.
Die Linke betont diesen Punkt nicht laut, aber sie geht den Weg mit. Dabei hat die Partei für den Verfassungsschutz eigentlich eine andere Vision: seine Abschaffung. In der Koalition sei dies nicht durchsetzbar gewesen, sagt Bodo Ramelow. Aber: „Ein Geheimdienst, der so schwer zu kontrollieren ist, bleibt wesensfremd in einer Demokratie.“
Auch Stephan Kramer unterschrieb 2012 eine Resolution, in der es hieß: „Ein Geheimdienst, der nichts von der Mordserie des NSU wusste, wird nicht gebraucht.“ Heute sagt er, er glaube noch immer, dass vieles Zivilgesellschaft und Wissenschaft übernehmen könnten. „Aber solange wir auch Terrorismus oder Spionage bekämpfen müssen, sehe ich noch keine Alternative zum Verfassungsschutz.“
Also wird sich Kramer ab Dienstag an seine Reform machen. Ein Jahr gibt er sich, dann soll sein „neuer Verfassungsschutz“ sichtbar sein. Falls nicht, sagt Kramer, dann werde er in sich gehen müssen. „Dann kann es sein, dass ich an einen Punkt komme, an dem es heißt: Es geht nicht, es braucht womöglich doch eine Abschaffung.“
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