Thriller über die Griechenland-Krise: Das 36-Milliarden-Loch
„Game Over“ ist ein Rückblick auf sieben Jahre Schuldenkrise: Autor Giorgos Papakonstantinou war drei Jahre griechischer Finanzminister.
Griechenland ist ein Streitthema, das noch immer Familienfeiern sprengen kann. Wäre ein Grexit besser gewesen? Ist das Sparprogramm zu hart? Und überhaupt: Wer hat Schuld – Griechen oder Europäer?
In Deutschland ist Giorgos Papakonstantinou fast vergessen, der Sozialdemokrat hat 2010 das erste Rettungspaket für Griechenland verhandelt. Es war ein Vertrag der Superlative: Nie zuvor hat ein Land so viele internationale Hilfskredite bekommen – aber zugleich wurde noch nie ein so hartes Sparprogramm verlangt.
Papakonstantinou ist Ökonom, hat an der London School of Economics studiert und promoviert. Trotzdem wollte er kein typisches Wirtschaftsbuch schreiben, sondern einen „politischen Thriller“. Spannend ist sein Buch „Game Over“ tatsächlich; vor allem seine eigene, turbulente Amtszeit schildert er plastisch.
Als neuer Finanzminister fand er im Oktober 2009 nur Chaos vor: Sein konservativer Vorgänger hatte sämtliche Akten entweder mitgenommen oder vernichtet. Die Festplatten der Computer waren verschwunden, und ein Budget für das nächste Jahr gab es auch nicht.
Komplett außer Kontrolle
Die Konservativen wussten, warum sie keine Spuren hinterlassen wollten. Der griechische Staatshaushalt war komplett außer Kontrolle geraten. Es dauerte Monate, bis sich Papakonstantinou einen Überblick verschaffen konnte. Ständig betraten neue Delegationen sein Büro, um Geld zu fordern, das nirgendwo eingeplant war: Die staatlichen Rentenkassen waren schon im Oktober erschöpft und benötigten weitere 2 Milliarden Euro, um bis zum Jahresende durchzuhalten. Der Pensionsfonds der Elektrizitätswerke verlangte 770 Millionen, und den Krankenhäusern fehlten 6 Milliarden, um die Arzneirechnungen zu begleichen.
Papakonstantinou scheut sich nicht, die heimische Misswirtschaft klar zu benennen. Ironisch schildert er, wie der damalige EZB-Chef Jean-Claude Trichet mit einem Schaubild wedelte, das die Explosion der griechischen Löhne illustrierte: In nur zehn Jahren waren die Gehälter der Staatsbediensteten um „erstaunliche“ 117 Prozent gestiegen. In harten Zahlen ausgedrückt: Das griechische Haushaltsdefizit betrug 2009 mehr als 36 Milliarden Euro, was 15,4 Prozent der Wirtschaftsleistung entsprach. Dieses Loch wurde durch Kredite aus dem Ausland gestopft. Vor allem deutsche und französische Banken hatten stets bereitwillig Darlehen gewährt.
Doch im Frühjahr 2010 dämmerte dem Ausland, dass Griechenland niemals in der Lage sein würde, seinen Schuldenberg abzutragen. Der Kredithahn wurde zugedreht, und das Land stand vor der Pleite. Einige Ökonomen wie der spätere Finanzminister Yanis Varoufakis forderten schon damals, dass Griechenland aus dem Euro ausscheiden solle.
Doch ein Grexit war für Papakonstantinou ausgeschlossen. Sein Argument war so schlicht wie einleuchtend: das 36-Milliarden-Loch im Staatshaushalt. Hätte Griechenland den Euro verlassen, wären keine Hilfskredite geflossen und das Land hätte seine Ausgaben ad hoc radikal zusammenstreichen müssen. Da war ein Rettungsprogramm besser. Die Europäer verlangten zwar ein hartes Sparprogramm, waren aber bereit, neue Kredite zu gewähren, damit Griechenland fünf Jahre Zeit hatte, sein Defizit zu reduzieren und einen fast ausgeglichenen Haushalt zu erreichen.
Hart, aber fair
Papakonstantinou spart nicht mit Kritik an den Konservativen oder an Syriza, aber er bleibt fair. Auch seine eigene Partei schont er nicht. So wird zwischen den Zeilen deutlich, dass die Sozialdemokraten gelogen haben, um 2009 an die Macht zu kommen. Der spätere Premier Papandreou wusste genau, dass Milliarden im Staatshaushalt fehlten. Trotzdem behauptete er in seinem Wahlkampfslogan: „Es ist genug Geld da.“
Kritik übt Papakonstantinou auch an den Europäern. Sein Fokus ist jedoch anders als üblich. Er hält sich nicht lange damit auf, die diversen Reformvorschläge der Troika zu kommentieren, sondern konzentriert sich auf den zentralen Fehler, der allzu oft übersehen wird und der allein Kanzlerin Merkel anzulasten ist. Sie setzte bei einem deutsch-französischen Gipfel im Oktober 2010 durch, dass bei einem Schuldenschnitt auch die privaten Gläubiger haften müssen. „Der Euro wird ruiniert“, warnte EZB-Chef Trichet vergebens. Die Folgen waren nicht nur für Griechenland fatal. Auch Portugal und Irland mussten nun unter den Rettungsschirm, weil die Finanzanleger einen Staatsbankrott fürchteten und keine Kredite mehr gewährten. Aus einer Krise im kleinen Griechenland wurde eine Systemkrise, die wir seither „Eurokrise“ nennen.
George Papaconstantinou: „Game Over. The Inside Story of the Greek Crisis“. Amazon Fulfillment 2016, 326 S., 19,21 Euro.
Wie bei jedem „Thriller“ gibt es auch einen Cliffhanger: Durch das gesamte Buch ziehen sich Andeutungen zur sogenannten Lagarde-Liste, die Papakonstantinou „fast hinter Gitter gebracht“ hätte. Denn auf dieser Liste, die er von der französischen Finanzministerin Lagarde erhielt, standen 2.062 Griechen, die Geheimkonten in der Schweiz besaßen. Plötzlich aber fehlten drei Namen – drei Verwandte von Papakonstantinou.
Das letzte Kapitel von „Game Over“ liest sich daher wie ein Krimi. Für Papakonstantinou steht fest: Er hat diese drei Namen nicht entfernt. Mächtige Kreise in Griechenland hätten sich an ihm rächen wollen.
Sieben Jahre dauert die Krise in Griechenland schon und die Lage wird ständig unübersichtlicher. Wer sich orientieren will über Ursachen, Entscheidungen, Fehler und Personal: Papakonstantinous kurzweiliges Buch ist ein guter Abriss, allerdings nur auf Englisch zu haben.
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