Theresa Hannig Über Morgen: Wie Menschen und Städte in 100 Jahren der zunehmenden Hitze trotzen
Felix hat versprochen, mich auf ein Eis einzuladen, wenn ich mein stickiges Arbeitszimmer verlasse und mit ihm in die Stadt gehe. Das lasse ich mir nicht zweimal sagen. Erst an der Theke fällt uns beiden auf, dass er ja gar kein Geld hat. Wenn er mich aus dem Jahr 2125 besuchen kommt, bringt er nie etwas mit. Meinen Vorschlag, mir stattdessen einen heißen Börsentipp ins Ohr zu flüstern, lehnt er entrüstet ab – trotzdem kaufe ich uns zwei Kugeln Eis. Der Tag ist einfach zu schön. Dass die 27 Grad im Schatten eigentlich nicht zu einem Nachmittag im Mai passen, verkneife ich mir zu sagen. Lieber will ich wissen, wie Felix’Heimatstadt mit der Hitze umgeht.
„In ein paar Jahren wird es in den Städten so heiß, dass ein unbeschatteter Aufenthalt echt gefährlich werden kann“, sagt Felix, während er nachdenklich an seinem Eis leckt. „Manche Leute finden es schick, eine eigene Schattendrohne über sich mitzuführen, die sie bei Bedarf mit Wasser besprüht.“
„Wie eine schlecht gelaunteComicfigur?“
„Genau! Aber eigentlich reichen die über den Straßen aufgespannten Schattennetze. Ihre Fasern sind mit einer Mischung aus photovoltaisch aktiven und wasseraufnehmenden Stoffen beschichtet. So können die Netze tagsüber Strom produzieren und nachts Wasser aus der Luftfeuchtigkeit gewinnen.
Außerdem gibt es öffentliche Kühlräume, in denen nichts konsumiert werden muss, in die sich die Leute zurückziehen können. Um die Erhitzung der Innenstadt weiter zu kontrollieren, mussten etwa 40 Prozent der Flächen bepflanzt werden. Die Bewässerung läuft über Kanäle, die man überall durch die Stadt gezogen hat, um den Boden zu kühlen.“
„Wie schön …“, seufze ich, während ich versuche, eine frühreife Wespe von meinem Eis fernzuhalten.
„Bei so vielen Pflanzen in der Stadt gibt es dann natürlich noch mehr Tiere.“
„In der Stadt? Haben wir dafür nicht Naturschutzgebiete?“
„Biodiversität nur im Naturschutzgebiet reicht nicht. Wir haben Alleen und Parks mit unterschiedlichen Mikroklimazonen, in denen verschiedene Pflanzen- und Tierarten leben. Je nach Jahreszeit werden mache Bereiche gesperrt, damit dort in Ruhe bestäubt oder genistet werden kann.“
„Beschweren sich die Leute nicht, wenn sie nicht mehr rein kommen?“
„Im Gegenteil. Die freuen sich über neuen Content in den städtischen FaunAccounts. Das sind Social-Media-Profile, auf denen Fotos und Videos heimischer Tiere gepostet werden, über deren Nist- oder Brutplätzen Kameras installiert sind oder die selbst gechippt und mit Kameras versehen wurden. So können die Leute die Tiere ihrer Heimat verfolgen, werden emotional involviert und engagieren sich mehr für deren Schutz. Für gesunde Populationen sorgen eRodents, mausgroße autonome Bots, die mit KI-gestützter Bilderkennung kranke oder verletzte Tiere behandeln. Je nach Bedarf verschießen sie Pfeile mit Medikamenten oder chemischem Contraceptivum, die sich danach auflösen.“
„Erstaunlich. Aber warum so viel Aufwand?“
„Weil Menschen eben nicht losgelöst von ihrem Lebensraum existieren. Anstatt die Tier- und Pflanzenwelt immer weiter zurückzudrängen haben wir einen Weg gefunden, Zivilisation und Natur zu integrieren.“
„Klingt gut“, sage ich. „Aber wie bekommen wir diese Maßnahmen durch den Stadtrat?“
„Keine Sorge, das fügt sich. Immerhin ist die Sicherstellung des Überlebens der eigenen Bevölkerung eine kommunale Pflichtaufgabe.“
Theresa Hannig, 40, ist Science-Fiction-Autorin, Politikwissenschaftlerin, Grünen-Stadträtin und ehemalige Softwareentwicklerin.
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