Therapeut Jesper Juul zu Patchworkfamilien: "Es sind ja hauptsächlich Stiefväter"
Wenn Eltern auseinandergehen, ist das für viele Kinder traumatisierend, sagt Familientherapie-Ikone Jesper Juul. Und erklärt, wie Patchworkfamilien funktionieren können.
taz: Könnten Sie in zwei, drei Sätzen sagen, wie Patchworkfamilien gut funktionieren können?
Jesper Juul: Im Grunde ist es genau dasselbe wie in jeder anderen Familie, etwa sollte man dem Kind gleichwürdig begegnen, nur dass dann noch ein paar Sachen dazukommen. Ich glaube, es ist zum Beispiel wichtig, dass man von Anfang an sogenannte Familienkonferenzen macht, bei denen jeder reihum sagen kann - ohne dass die anderen dies bewerten -, was ihm auf dem Herzen liegt. Jede Patchworkfamilie ist ein soziales Experiment, da ist es gut, einmal im Monat zu wissen, wo die Familie mit diesem Experiment steht.
Kann man sagen, dass Patchwork gut für Kinder ist, etwa weil es für das Leben schult?
JESPER JUUL 63, ist Familientherapeut. Der Däne gründete 2007 das Elternberatungsprojekt FamilyLab International. Sein neuestes Buch "Aus Stiefeltern werden Bonuseltern" ist 2011 im Kösel Verlag erschienen.
Ja, aber nur dann, wenn der Bonusvater oder die Bonusmutter ein guter Erwachsenenfreund wird. Patchworkkinder sind ja heute oft Pendler, daraus ergeben sich viele Schwierigkeiten. Wenn die leiblichen Eltern sich dann nicht gut einigen, nicht reden oder ständig nur streiten, wo geht das Kind dann hin mit seinen Sorgen? Dann ist es gut, wenn es eine Bonusmama oder einen Bonuspapa gibt, der etwa mal alleine mit dem Kind zum Pizzaessen geht und sich seine Probleme anhört.
Wie soll man es nicht machen?
Schlecht ist es, wenn Eltern nach der Trennung wegen Schuldgefühlen dem Kind zu viele Freiheiten einräumen. Wenn dann nämlich ein Stiefvater dazukommt und die Erzieherrolle übernimmt, dann entstehen die vielen Probleme. Dann fangen die Erwachsenen an, sich wegen des Kindes zu streiten. Kinder sind aber überzeugt, dass der Fehler bei ihnen liegt. Zudem kommt es zu Auseinandersetzungen zwischen Kind und Stiefvater.
Sie sagen: Kinder zwischen 3 und 13 Jahren haben es in Patchworkfamilien am schwersten.
Die ganz kleinen Kinder sind gefühlsmäßig nicht so berührt. Die trauern nicht so viel. Tatsache ist, dass, wenn sich die Eltern trennen, die Kinder meist bei der Mutter leben. Der Vater war vorher zu 80 Prozent der Fälle aber gar nicht anwesend. Es konnte also auch keine Bindung zum Vater entstehen.
Sollten Eltern also wegen der Kinder möglichst lange zusammenbleiben?
Das ist schwierig zu beurteilen. Als Psychotherapeuten haben wir viele Erwachsene in unserer Praxis getroffen, die in so einer Familie gelebt haben. Die einen sagten: "Das war ein Elternhaus ohne Liebe." Andere sagen: "Mir hat das gut gepasst." Alles, was wir wissen, ist: Es geht den Kindern optimal gut, wenn die Eltern anständig miteinander umgehen, dazu gehören auch Emotionen wie Trauer und Wut, das schadet niemandem.
Bedeutet die Trennung der Eltern immer ein Trauma für Kinder, oder wie kann man das annehmbar gestalten?
Eine Trennung bedeutet für alle Beteiligten Trauer. Aber es kommt bei den Kindern nur zu einer Traumatisierung, wenn die Scheidung sehr dramatisch verläuft, besonders wenn die Eltern die Kinder gegeneinander benutzen. Ich glaube, dass Trennungen für viele Kinder viel traumatisierender sind, als wir meinen. Aber es ist politisch nicht korrekt, das zu sagen, darum gibt es auch keine Forschungsgelder. Allerdings wäre es wichtig, hier mehr Klarheit zu haben, Kinder können nämlich auf Traumata genau wie Erwachsene mit einem Posttraumatischen Stresssyndrom reagieren. Dann verlieren sie das Kurzzeitgedächtnis und die Leistungen in der Schule sacken ab.
Patchworkfamilien gab es ja eigentlich schon immer, warum hat der Mensch bis heute keine gute soziale Anpassung an diese Familienform entwickelt?
Früher hatten wir es mit einer anderen Art Stieffamilie zu tun. Da sind die Mütter im Kindsbett gestorben und es war eine soziale Notwendigkeit für den Mann, sich eine neue Frau zu suchen. Der Mann erwartete von ihr, dass sie jetzt alles übernimmt, was mit Haushalt, Arbeit auf dem Feld und den Kindern zu tun hat. Das war eine Überforderung. Den Mann konnte sie aber nicht damit konfrontieren, sie konnte sich auch nicht einfach scheiden lassen. Das hat aus den Stiefmüttern wütende, aggressive und bittere Frauen gemacht, die ihre Wut häufig an den Kindern ausließen. Und das hat zu dem schlechten Image der "bösen Stiefmutter" geführt, das wir auch aus Märchen kennen. Heute gibt es ja hauptsächlich Stiefväter. Sie müssen ihre Rolle erst noch finden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Bundestagswahl 2025
Parteien sichern sich fairen Wahlkampf zu
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen