Theaterprojekt aus Chemnitz: Anheimelnde Bräuche sind eingeschlossen
Vier Stücke an einem Abend: Das ambitionierte Theaterprojekt „Inside Outside Europe“ der Kulturhauptstadt Chemnitz nimmt sich des Themas Migration an.

Es kam alles eine Nummer kleiner als nach den Ankündigungen vermutet, dennoch lohnte die Fahrt nach Chemnitz am 12. April zur ersten Zusammenschau eines Gemeinschaftsprojekts der vier westsächsischen Bühnen. „Ein Bühnenbild, vier Theater, vier Uraufführungen“ – so wurde „Inside Outside Europe“, ein Projekt, das den Chemnitzer Kulturhauptstadtintentionen zur Verquickung von Stadt und Kulturregion dient, angekündigt.
Die Idee ging vom Chemnitzer Figurentheater aus. Die Bühnen in Plauen-Zwickau, das Mittelsächsische Theater in Freiberg-Döbeln und das Winterstein-Theater im erzgebirgischen Annaberg steuerten jeweils Komponenten bei. Ort der Zusammenführung war wegen des andauernden Umbaus des Schauspielhauses der überhaupt nicht wie ein Provisorium wirkende Chemnitzer „Spinnbau“. Eine Industrieruine, die zu DDR-Zeiten „VEB Spinnereimaschinenbau“ hieß und zweieinhalbtausend Karl-Marx-Städter beschäftigte.
Erwartungen stellten sich ein, es handele sich um eines der beiden großen Theaterereignisse des Kulturhauptstadtjahres neben der im September geplanten Opern-Uraufführung „Rummelplatz“ – einer Bühnenadaption von Werner Bräunigs posthum erschienen Roman, adaptiert von Ludger Vollmer (Komposition) und Jenny Erpenbeck (Libretto). Begleitet von der Neugier, ob hier wirklich vier eigenständige Bühnen unter einer Leitidee ein gemeinsames Konzept entwickeln könnten.
Doch ein großes Spektakel konnte sich allein schon wegen der begrenzten Platzkapazitäten nicht einstellen. Das Figurentheater erlaubt nur kammerspielartige Inszenierungen. Der geplante Freiberger Beitrag „Der Clown und Europa“ hätte den Rahmen leicht überschritten. Aber dieses poetisch-leichte Spiel über Ehrgeiz und Scheitern für Zuschauer ab zehn Jahren scheiterte an den Probenverletzungen eines Tänzers, so dass nur drei Komponenten zum Gemeinschaftswerk beitrugen.
Wie kann man Heimat teilen?
Das ließ leider den großen Bogen vermissen, erinnerte eher an ein kleines mittel- und westsächsisches Theatertreffen. Gemeinsam nutzten die drei Theater vor allem das Bühnenbild. Ein aus paraventartigen weißen Elementen zusammengesetzter Spiel-Raum, dessen Rückwand als Videobildwand dienen und bei einem Wutanfall in der Ausländerbehörde auch demontiert werden kann, wie sich im Laufe des Abends zeigt. Mobile Elemente bilden zusätzlich eine schräge Ebene, Tische oder Kästen.
Die ersten beiden Beiträge standen noch in einem klaren Zusammenhang, behandelten das schon einer Massenhysterie gleichende Thema Migration. Pikanterweise stammen beide Texte von der jungen georgischen Autorin und Festivalleiterin Tamó Gvenetadze. Mit unterschiedlichen Ergebnissen: „Call it home. Wie kann man Heimat teilen?“ basiert auf Recherchen und Interviews im Erzgebirge, beispielhaft gespiegelt von der aus dem Iran geflüchteten Mutter Maleeka und ihren beiden Töchtern.
Maleeka ist um Assimilation bemüht, die anheimelnden Bräuche im Weihnachtsland Erzgebirge eingeschlossen. „Das hier ist mein Zuhause“, bekennt sie und möchte nicht erneut fliehen. Ihre Tochter hingegen berichtet von rassistischen Beleidigungen und Übergriffen. „Wir müssen von hier weg“, drängt sie, ihr Koffer unterm Bett ist stets gepackt. Keiner hat das Dilemma der Mutter treffender ausgedrückt als einst der Barde Wolf Biermann: „Ich möchte am liebsten weg sein – und bleibe am liebsten hier.“
Dieses Mutter-Töchter-Spiel teils mit vertauschten Rollen (Gisa Kümmerling, Anna Bittner und per Video Siyana Boneva) ist zweifellos ehrlich und engagiert. Allerdings ist es sehr geradeaus inszeniert, es geht kaum darüber hinaus, was auch in Journalismus und Wissenschaft über den hiesigen Rassismus bekannt ist. Eingestreute Breaking News, die einem aus auf den Kopf übergestülpten TV-Geräten aus Pappe mitgeteilt werden, vertiefen nichts.
Dieselbe Autorin und Regisseurin zündet hingegen im Plauener Beitrag „EUdaimonía“ ein parodistisches Feuerwerk gegen Ignoranz und Arroganz deutscher Ausländerbehörden. Hier sind es zwei Georgier, die junge Ärztin Dea (Sophie Hess) und der zeitweilig hier jobbende Erekle (Philipp Andriotis), die am Formalismus der Behörden und dem nur mühsam kaschierten „Ausländer raus“-Ungeist verzweifeln. Im Land ihrer Träume – zumindest für ein paar Arbeitsmonate bei McDonald’s – kämpfen sie um den elementaren Respekt, der laut Grundgesetz eigentlich jedem Menschen zusteht, gleich welcher Herkunft.
Der Bürokrat als Zyniker
Da könne man zum Mörder werden, raunt jemand im Publikum. Und tatsächlich könnte man verzweifeln, hätte Tamó Gvenetadze das Anrennen ihrer Protagonisten gegen Unlogik und Willkür nicht im Stile absurden Theaters auf die Spitze getrieben. Der Bürokrat erscheint als seelenloser Zyniker und armes Schwein zugleich, und wie er in der Wohnung der verheirateten Dea erscheint und deren Ehestand überprüfen will, ruft bei Zuschauern spontane Unmutsäußerungen hervor.
Schließlich führt Erekle in einem köstlichen Exkurs die grammatische Unlogik der drei deutschen Substantivgeschlechter vor. Und Dea erschlägt final in einem „gewalttätigen Showdown“ den Bürokraten mit seinem eigenen Schreibtischwust und stempelt anschließend alle Papiere mit „Ausnahme“ ab. Das Stück ist der Höhepunkt des Abends, und man darf Patrick Bartsch als hochneurotischen Darsteller der personifizierten Bürokratie herausstellen, der sich selbst und seine Armer-Ossi-Rolle hasst und sich mit geschredderten Papieren ausstopft.
Der Beitrag des Chemnitzer Figurentheaters, die Stückentwicklung „Versuch über meinen Großvater“ (Regie und Text von Karen Breece) wirkte danach epigonal. Eine Frau sucht nach den Spuren der Verstrickung ihres Großvaters und anderer Mediziner in das NS-Regime und speziell in dessen Verbrechen in Galizien. Dort war er ab 1942 sogenannter Seuchenreferent, wusste von „Forschungen“ an Gefangenen und kannte zumindest an Massenerschießungen beteiligte Vorgesetzte.
Das ist mit Hilfe der Puppen eindringlich und mahnend gestaltet (von Arne van Dorsten, Gundula Hoffmann, Jakob Ferdinand Lenk), zumal viele der Medizinerkarrieren nach 1945 ungebrochen weiterliefen. Aber eben auch relativ trockenes Recherche- oder Dokutheater. Geradezu unpassend erschien mehrfach die Musikauswahl, darunter etwa Frank Sinatras „My Way“.
Das leider abgesagte „Der Clown und Europa“ der Mittelsachsen hätte noch eine weitere, eher spielerische Farbe in den wenig stringenten Abend hineinbringen können, sollte es doch laut Ankündigung um das Wesen des europäischen Humors gehen (das Stück soll am 27. April sowie am 9. Mai an der Bühne Freiberg zu sehen sein). So prägen sich wertvolle Teile des Abends zwar ein, räumen aber den Gesamteindruck einer Unwucht dieses Vierstädteprojektes nicht aus, dem die konzeptionelle Oberhand fehlt.
Korrekturhinweis: In einer früheren Version des Textes wurden als Puppenspielende versehentlich falsche Namen genannt.
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