Theater mit Liveband: Fußbalsam im Dschungel
Die Seele erhebend, so sollte Humboldts Wissen dem Menschen zugutekommen. "Kosmos Klandestin" blättert nun auf Kampnagel in Hamburg im geheimen Tagebuch des Forschers.
Alexander von Humboldt, preußischer Naturforscher und Universalgelehrter, ist inzwischen längst zu einer Marke geworden und ein Gründungsmythos des Bildungsbürgertums. Von der Humboldt-Stiftung zur Universität, vom Humboldt-Boulevard zum Humboldtgymnasium, sein Name ziert Institutionen und Straßen auf der ganzen Welt. Auf Kampnagel in Hamburg denkt jetzt die Regiegruppe "Schöne Gegend", bestehend aus Simone Henneken und Frederik Nedermann, laut darüber nach, wem das Wissen in unserer heutigen Gesellschaft zugutekommt.
"Kosmos Klandestin" heißt ihre Produktion und bezieht sich auf Humboldts "Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung." Im Jahr 1804 war Humboldt von einer Reise nach Südamerika mit mehr als 6.000 in Europa unbekannten Pflanzen zurückgekehrt. Die Ergebnisse dieser Reise ließ er in seinen "Kosmos" einfließen, der vom Muschelkalk bis zu den Sternschnuppen keinen Gegenstand auslässt. Das fünfbändige Werk war auch eine Antwort auf die Definitionsmacht der Bibel. Das systematisch erfasste Wissen der Natur sollte Diskussionsgrundlage zur Beantwortung weiterer bohrender Fragen werden; nach der Beschaffenheit von Gott etwa, dem Ursprung des Lebens oder dem, was die menschliche Seele lenkt. Ziel seiner Arbeit, schrieb Humboldt vor seiner Abreise nach Südamerika, sei es, "die Seele zu erheben und die Vorstellungskraft zu erweitern".
Simone Henneken und Fredrik Nedelmann haben ihr Humboldt-Stück als ein begehbares Hörspiel angelegt. Der Ordnungsdrang des Forschers und der Freigeist seines französischen Begleiters Aimé Bonpland brechen sich dabei mit ihrer blühenden Fantasie. Henneken und Nedelmann haben sich ein "bisher unbekanntes" Tagebuch Humboldts ausgedacht, eben den "Kosmos Klandestin. Die geheimen Welten des Alexander von Humboldt". Das führt direkt in den Dschungel zwischen Amazonas und Orinoko und sein undurchdringliches Dickicht aus Bäumen und Pflanzen.
In diesem "Eldorado der Geheimnisse" brummen die Moskitos als wären sie PS-Bolliden, während das Donnergrollen aus dem Himmel nach Heavy Metal klingt. Vier Leinwände und zahlreiche Lautsprecher umhüllen die Zuschauer, die auf Sitzelementen mitten im Raum Teil der Installation werden. Animierte Figuren, die Humboldt und Bonpland wie Ratgeber aus Frauenzeitschriften aussehen lassen, Filmeinspielungen und Diaprojektionen, Soundscapes und vorproduzierte Dialoge füllen den Raum mit Leben.
Dazu spielt eine dreiköpfige Band live. Das 440 Hz Trio um den Hamburger Musiker Richard von der Schulenburg (Die Sterne) widmet sich Latinrhythmen und Sambamelodien und trägt dem Ordnungsdrang in absurden Texten Rechnung: "Runkelrübe, Fingerhut, Sonnenhut, Kartoffelblume, Bischofsmütze." Wie in einem Scherenschnittfilm verschieben sich die Kulissen. Der Blick schweift ständig. Musik, Bilder und Texte haben einen eleganten Drive.
"Es ist kein bequemer Weg, der von der Erde zu den Sternen führt", hat der römische Dichterphilosoph Seneca einmal geschrieben und spricht damit dem wissenschaftlichen Gipfelstürmer Humboldt aus der Seele. Auf ihrer illusionistisch dargestellten Naturerfahrungsmission, in der die Schönheiten der Natur perfekt inszeniert sind, geraten Humboldt und Bonpland trotz bester Absichten fast zwangsläufig vom Pfad der Tugend ab. Bonvivant Bonpland interessiert sich bei der Ankunft in Südamerika hauptsächlich für die Welt der Frauen. "Wollen wir unser Leben gemeinsam beschleunigen, Mademoiselle?"
Humboldt hingegen zerbricht sich den Kopf über die Vermarktung seines Wissens. Statt Tierarten und Pflanzen zu vermessen, arbeitet er sich zunehmend an der "Typologie der menschlichen Gehwerkzeuge" ab. Sein wissenschaftlicher Eifer wird im Regenwald immer mehr zum existenzphilosophischen Zweifel. Stur läuft der Preuße dem Franzosen hinterher, den Blick auf dessen Fersen gerichtet. Umgangssprachliche Ausdrücke wie Quante oder Mauke machen dann die Runde. Jeder zurückgelegte Schritt wird einzeln gezählt. Eine Tube Fußbalsam gerät ins Bild. Symbole aus der warenförmigen Gegenwart werden brachial in die idealistisch-romantische Vorstellungswelt der Forscher hineinmontiert.
Fortschritt, das legt die Produktion als Erkenntnis nahe, hat nicht zu einer Verbesserung der Lebensverhältnisse geführt. Einzelne Firmen eignen sich Wissenskapital an und profitieren davon, nicht aber die Allgemeinheit. Dass "Kosmos Klandestin" nicht zur braven Kapitalismuskritik gerät, verdankt das Stück seinem spielerischem Aufbau. Bilder, Töne und Musik assoziieren frei, aber in ruhiger und konzentrierter Atmosphäre. Nicht Theaterdonner erheischt die Aufmerksamkeit der Betrachter, sondern die Verschaltungen zwischen Medien, die wiederum Platz für weitere Erzählfreiräume schaffen.
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