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Theater der Beiläufigkeit

Die Werkstatt für Bühnenkunst verwandelt mit dreistem Charme ihre zahlenden Besucher in Akteure eines erotischen Festmahls – ein Theaterabend als gewaltiges karnevalistisches Retardement

Das Schauspiel wütet, es fasst den Zuschauer am Arm, versperrt ihm den Weg: Mit Eintritt ins Kontorhaus beginnt das Spektakel. Die amphibolische Empfangsdame Catherine begrüßt aufdringlich-charmant die Ankömmlinge, unerbittlich höflich weist ein schwarzer Portier mit Rokkoko-Perücke das Bestreben vorzudringen, zurück.

Schon vor dem Renaissancebau, in der eisig hellen Schildstraße, hatte ein gesichtsloser Gevatter Hein, in Rot gehüllt, die Sense geschwungen. Langsam sind die Bewegungen absoluter Macht: Hier herrscht der Rote Tod, die Pest – das Theater.

Die Werkstatt für freie Bühnenkunst verwandelt seit Donnerstag das Kontorhaus in den „P(h)allazzo d‘amore“: Angekündigt ist die Produktion als „erotisches Festmahl“. Sie ist weit mehr. Denn wie das Theatralische in die nächtliche Stadt dringt, überschreitet es auch in der Spielstätte Grenzen: Mit dreister Beiläufigkeit macht die Inszenierung die Besucher zu Akteuren, als habe es die Trennung zwischen Publikum und Darstellern nie gegeben.

Größter Feind solcher Interaktion wäre die Peinlichkeit: Wie sie vermeiden? Unmöglich, lautet die Antwort des Regisseurs. Man muss sie gezielt aufgreifen und ad absurdum führen. Drum lässt Kevin Young die Schauspieler mit lächerlichem Akzent sprechen, mal französiert, mal norddeutsch.Wie in eine Geisterbahn führen sie das Publikum in den Keller: Dort steht, auf einem Altar zwischen zwei Kelchen ein Eierbecher: Aus einem goldenen Rahmen blickt eine lebendige Ikone, sie ergreift das Ei, schlägt’s auf, mischt Dotter und Wein im Kelch. Wie albern!, wie kindisch!

Und doch funktioniert das Ritual. Im Dunkel sind die Zuschauer zu Gästen geworden. Sie nehmen Platz an einer eingedeckten Tafel. Mit inkommensurablen Pappmachébrüsten thront an deren Präsidium die Herrin des Hauses, Laura. Ein Loch tut sich auf, das rote Tischtuch verschwindet in der Öffnung, verwachsene Gnome stecken ihre Köpfe in die Höhe. Kreischend und keifend servieren sie Suppe.

Et c‘est tout: Ja, erotische Novellen werden auch vorgetragen, Chansons gesungen. Doch unerfüllt bleibt die Erwartung, dass nun die erkennbare Handlung den gewohnten Gegensatz erneuere. Denn dieses gewaltige Retardement ist bereits das Spiel: Atemberaubender Stillstand, dessen Fesseln nur der Tod noch sprengen kann. Er trägt, als er den Tisch betritt, ein rotschillerndes Tuch als Gewand.

Benno Schirrmeister

Phallazzo d‘amore, Kontorhaus, Schildstraße 21 (neben dem Lagerhaus). Täglich bis Dienstag, 17. Dezember, jeweils ab 21 Uhr

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