Theater als Kommentar zum IS-Terror: Von der Wirklichkeit eingeholt
Die Theaterstücke „Pornographie“ und „Die Ereignisse“ beschäftigen sich in Bremen und Lübeck mit Attentätern. Seit den Anschlägen in Paris werden sie anders gespielt.
BREMEN taz | Hals über Kopf: Aktualität. Beängstigend, brisant, bestürzend, erschreckend, schockierend sei sie, unheimlich, beklemmend, mahnend und deprimierend – das sind die Adjektive, mit denen über zwei Stücke gesprochen wird, deren Inszenierungen gerade in Lübeck und Bremen von der Wirklichkeit eingeholt wurden und nun als Kommentare zum IS-Terror in Paris verstanden werden.
Simon Stephens „Pornographie“ greift die Anschläge des Julis 2005 auf. London befand sich im Rausch des Live-8-Spektakels, des größten Benefizkonzertes der Welt, und der soeben verkündeten Kür zur Olympiastadt 2012 – da rissen Selbstmordattentäter in Bussen und U-Bahnen 52 Menschen in den Tod.
„Die Ereignisse“ von David Greigs wiederum beziehen sich grob auf den Horror, den Anders Breivik vor vier Jahren auslöste, als er 77 Menschen in Norwegen erschoss. Beide Werke kümmern sich nicht um konkrete Bilder des Schreckens. Stattdessen wagen sie etwas, was gerade jetzt zynisch anmutet: Sie suchen nach den Tätern in den Opfern. Und sind vielleicht deswegen die richtigen Stoffe zur kriegerisch aufgebrachten Zeit?
Terror kommt von innen
„Pornographie“ feierte am Tag vor den Pariser Anschlägen in Bremen Premiere. Während der Proben sei diskutiert worden, ob der Text nicht in die Jahre gekommen ist, verrät Dramaturgin Simone Sterr. Und ist während der Publikumseinführung zur Zweitaufführung ratlos, ob aus aktuellem Anlass etwas an der Regiearbeit Klaus Schumachers zu ändern sei.
Das Stück stellt einen der Attentäter gleichberechtigt neben andere durch die Underground-Adern der Metropole hetzende Nomaden – und versucht Herzen wie Hirne zu durchleuchten. Entdeckt, also behauptet wird, dass der Terror nicht aus Syrien nach Europa, sondern von innen kommt, der Antrieb dazu in uns allen steckt.
Die Gefährdung wird allgegenwärtig in dem brüchigen sozialen Geflecht rund um die Katastrophe: einem beschleunigten, von Erfolgssucht getriebenen Leben, das als überfordernd empfunden und vom Attentäter verachtet wird.
Die Bühne: eine Subway-Station. Dort stehen, sitzen, irren nervöse und gedemütigte Großstädter herum. Das Frustpotenzial ist hoch, Fluchtfantasien werden befeuert, Regelverstöße und Tabubrüche gesucht, Feindbilder konstruiert, Opfer gefunden. Eine beruflich wie familiär enttäuschte Frau ruiniert ihren Arbeitgeber, indem sie Unternehmensgeheimnisse der Konkurrenz zukommen lässt.
Tickende Zeitbomben
Ein mit Komplexen beladener Junge misshandelt aus verschmähter Liebe seine Lehrerin. Einsam und notgeil wird ein Professor übergriffig, versucht eine jobsuchende Ex-Studentin zu vergewaltigen. Und der Attentäter fühlt sich nirgendwo ernst- oder wenigstens wahrgenommen. Nicht einmal seine Unterschrift auf der Kreditkarte wurde geprüft, als er Anschlagsutensilien gekauft habe, empört er sich.
Alle Figuren sind von Beginn an tickende Zeitbomben, degradieren schließlich andere zu Objekten ihrer Befreiungsakte – deswegen der Stücktitel – und mahnen so an die Zivilisation markierende Tathemmnis. Tapfer vernünftig – so wird solche Selbstdisziplin üblicherweise charakterisiert. Als Faul-, Träg- und Feigheit lehnen die Grenzüberschreiter das Prinzip ab.
In der Premiere soll Guido Gallmann, Darsteller des Attentäters, das noch feinsinnig, leise, psychologisch mitfühlend gespielt haben. „Es war gar nicht so einfach, das zuzulassen“, erzählt Sterr. In der ersten Vorstellung nach dem Paris-Trauma schien es, als würde er sich von der Figur distanzieren – brachte auch durch hasserfülltes Anspielen des Publikums dieses dezent gegen sich auf. Der schmale Grat zwischen den einsamen Herzen der gestressten Kleinbürger und dem fanatischen Muslim wurde breiter.
Miteinander als Sünde
Aber unterscheidet sich dieser nicht vom fanatischen Rechtsradikalen der „Ereignisse“? „Beide sind sehr ähnlich“, sagt Dramaturgin Katrin Aissen über Greigs Stück, in dem ein Breivik-Typ eine multiethnische, sozial durchmischte Singgemeinschaft der lesbischen Chorleiterin Claire massakriert.
„Auch er will dem, was er sein Volk nennt, Gutes tun“, sagt Aissen, „er hat diesen messianischen Gedanken, im Namen einer großen Idee Werte schützen zu müssen.“ Das Miteinander von Menschen unterschiedlicher Herkunft, Religion und sexuellen Orientierung ist für ihn unvorstellbar: Sünde.
Hauptfigur aber ist die überlebende Claire. Aus Betroffenheit, Zwang, Hilflosigkeit fragt sie nach dem Warum. Würde es sich dabei gern einfach machen, eine psychische Krankheit diagnostizieren und den Täter als Monster abtun. Aber der Autor gibt keine erlösenden Antworten, versucht gar nicht erst, mit einem Verstehen auch ein Verzeihen zu ermöglichen.
Sondern spielt mit Erklärungsmustern, indem er das Umfeld des Attentäters beleuchtet und dessen Darsteller auch einen Psychologen, Rechtsaußen-Politiker, Freund, Journalisten sowie den Vater spielen lässt. Klar, schlimme Kindheit kommt vor, von Schicksalsschlägen geht die Rede, von falschen Freunden, muffigen Ideologien, dem Drang nach Anerkennung.
Grenze zwischen Wunsch und Tat
Aber Stephens wie Greig geht es nicht um den Attentäter, sondern um den Zuschauer. Er soll sich mit den Opfern identifizieren und darin das Potenzial des Täters erkennen. In „Pornographie“ entblößen sich die Figuren geradezu in ihrer Panik, jetzt ein Zeichen setzen zu müssen. „Die Ereignisse“ zeigen, wie die Grenze zwischen Wunsch und Tat verschwimmt.
„Das Böse in sich selber entdecken, das macht die Figur der Chorleiterin durch“, sagt Aissen. Voller Heimtücke erklärt sie, dem Täter vergeben zu wollen – nur um ihn im Gefängnis besuchen zu dürfen und vergiften zu können. Soll sie den Versuch abbrechen, das Gespräch suchen oder auch töten? In Lübeck werden diese drei Möglichkeiten nacheinander durchgespielt – auf dass nach dem Schlussapplaus die Debatte losbreche.
„Pornographie“: nächste Aufführungen Do, 10.12, Sa, 12.12. und Fr, 18.12., 20 Uhr, Theater Bremen
„Die Ereignisse“: nächste Aufführungen So, 29.11., 18.30 Uhr, Sa, 5.12., 20 Uhr, Theater Lübeck
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