Tennis: Die Wucht der Kilos
Die 22-jährige Französin Marion Bartoli steht im Halbfinale des Turniers von Wimbledon. Das kommt für Viele überraschend.
WIMBLEDON taz Marion Bartoli sagt über sich, sie sei stolz und leicht verletzbar; das Erbe ihrer Vorfahren aus Korsika. Als vor ein paar Tagen jemand meinte, sie sei doch sicher sehr überrascht, im Viertelfinale der All England Championships gelandet zu sein, da fühlte sie sich offensichtlich in ihrer Ehre gekränkt. "Für mich ist das keine große Überraschung", entgegnete sie. "Ich bin Top-20-Spielerin, nicht die Nummer 200 der Welt." Und auf der Grundlage dieser Einschätzung fand sie den folgenden Sieg gegen Michaella Krajicek völlig normal, denn die steht schließlich in der Rangliste diverse Plätze hinter ihr.
Aber alle anderen staunen; hätte man vor Beginn der Championships ein paar Pfund auf eine Halbfinalistin mit dem Namen Bartoli gesetzt, dann wäre das ein gutes Geschäft geworden. Eher unbeobachtet ist die 22 Jahre alte Französin im vergangenen Jahr in den oberen Regionen des Frauentennis aufgeraucht. Nun ist sie in Wimbledon in diesem Stadium des Turniers neben Venus Williams die am niedrigsten eingestufte Spielerin seit sieben Jahren. Die mit der ungewöhnlichsten Spielweise zurzeit ist sie allemal. Vor dem Aufschlag hampelt sie wie ferngesteuert an der Grundlinie herum, drischt bei Trockenübungen Schneisen in die Luft und wirkt zwischen den Ballwechseln derart hyperaktiv, dass man als Zuschauer Ameisen in Armen und Beinen spürt. Wie einst Monica Seles schlägt sie Vorhand wie Rückhand mit beiden Händen. Als Kind hatte sie noch mit einer Hand gespielt, doch dann sah ihr Vater Seles im Finale der French Open 1992 gegen Steffi Graf spielen und siegen, und am nächsten Tag schlug er der Tochter vor, sie solle es auch mal so probieren. Das tat sie, und dabei ist es geblieben. Die eingeschränkte Reichweite gleicht sie mit taktischem Geschick und gleichermaßen druckvollem Spiel von beiden Seiten aus. Hinter ihren Schlägen steckt Wucht, mehr noch als früher, seit sie ein paar Kilo zugelegt hat. Auch das ist eine Veränderung, für die der Vater verantwortlich ist, der Eingebung folgend, Masse sei nicht schlecht fürs Tempo im Spiel.
Die Art, wie Marion Bartoli spielt, scheint in gewisser Weise den Leitthemen ihrer beiden Lieblingsfilme entnommen zu sein: "Gladitor" und "A Beautiful Mind". Mit Kampf und Kopf hat sie sich beim Sieg gegen Jankovic aus der Bredouille gerettet, ebenso beim Erfolg in drei Sätzen gegen Krajicek. Und offensichtlich weiß sie mit ihren Kräften ziemlich gut umzugehen. Weil sie in einer unruhigen Nacht zuvor nicht genug geschlafen hatte, legte sie sich in einer Spielpause des zweiten Satzes gegen Krajicek ein Stündchen hin und wurde erst wieder wach, als die offizielle Durchsage kam, die Plätze würden wieder abgedeckt. Erfrischt kehrte sie ins Spiel zurück, schlug zu und gewann. Schlagen wie Seles und schlafen wie Sampras - keine schlechte Kombination.
Weniger gut passen offenbar die engen Familienbande in die Szenerie. Dr. Walter Bartoli, der nicht mehr als Arzt praktiziert, um sich ganz um das Training der Tochter kümmern zu können, hat mal gesagt: "Wenn ich nicht auf der Tribüne sitze, dann trifft Marion keinen Ball." Ohne ihren Vater mag sie nicht spielen, aber der ist nicht überall gern gesehen. Der Kapitän des französischen Fed-Cup-Teams, Georges Goven, nominierte sie am Mittwoch trotz des großen Erfolges in Wimbledon nicht für das Halbfinale gegen Titelverteidiger Italien am kommenden Wochenende. Goven versichert, er habe nichts gegen die Bartolis, aber es wäre schwer für Marion, ohne ihr gewohntes Umfeld bei einer so schweren Aufgabe im Gleichgewicht zu bleiben.
Am Erfolg in Wimbledon, den andere überraschend finden mögen, sie aber eher nicht, ändert das nichts. Sollte sie auch das nächste Spiel gewinnen, wäre sie aber sicher bereit, sich auch zu wundern. Dieses nächste Spiel ist das Halbfinale gegen Justine Henin, und die schafft es bekanntlich mit vergleichsweise wenig Masse, den Ball zu beschleunigen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Rücktritte an der FDP-Spitze
Generalsekretär in offener Feldschlacht gefallen
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Iran als Bedrohung Israels
„Iran könnte ein Arsenal an Atomwaffen bauen“
Keith Kelloggs Wege aus dem Krieg
Immer für eine Überraschung gut