Telefonieren wiederentdeckt: Hallo, wer spricht da?
Telefonieren erlebt in der Coronazeit eine Renaissance. Fernintimität kann aber auch nach der Krise wertvoll sein.
Man hatte es fast schon für tot gehalten. Doch die Coronakrise, die für so manche Kuriosität im zwischenmenschlichen Umgang sorgt, hat ihm zu einer ungeahnten Wiederentdeckung verholfen: dem Telefon. Da WhatsApp und Messenger-Dienst doch nur schwer fehlende soziale Kontakte ersetzen können, verabreden sich derzeit viele zum Telefonat, gediegen, auf dem Balkon mit einem Glas Wein an der Seite.
Doch worin liegt dessen Rückkehr begründet? Was macht seine Aura des Besonderen aus? Was kann dieses klassische Sender-Empfänger-Medium gar möglicherweise besser als das hybride Wunderinstrument Handy?
Im Gegensatz zu vielen anderen Kommunikationsmitteln verschafft es auf paradoxe Weise Nähe. Obwohl wir uns auf der anderen Seite der Welt befinden könnten, ermöglicht es, mit unserer Stimme und unserer Betonung mit dem anderen verbunden zu sein. Man könnte von einer „Fernintimität“ sprechen, die aus der Überwindung der Distanz hervorgeht.
Dokumentiert ist das übrigens im Genre des Western, etwa im Film „Überfall der Ogalalla“ (1941): Mit dem Bau der ersten Ferntrassen – analog zum Straßenbau der Römer oder den Kanalanlagen der Ägypter – wurde das weite und wilde Land domestiziert. Fortan wurde Raum durch Zeit ersetzt und Synchronität hergestellt. Es war der erste Schritt zu Marshall McLuhans Vision einer globalen Netzwerk- und Menschheitsgesellschaft. Man wuchs imaginär zusammen.
Die Idee einer Mediologie
Mehr noch: Ersehnten die christlichen Propheten über Jahrtausende die Loslösung der Seele aus den Fesseln des Körpers, ist diese Utopie aus dem 20. Jahrhundert längst zur Wirklichkeit geworden. Insbesondere die Idee einer „Mediologie“, wie sie die Philosophin Sybille Krämer im Zusammenfallen von Medientheorie und Theologie sieht, wird hierin offensichtlich. Analog zu unsichtbaren Engeln oder göttlichen Mächten schlägt die Telekommunikation eine immaterielle Brücke zwischen zwei entfernten Polen.
Ohne unsere leibliche Präsenz einzufordern, gewährt uns das Telefonat Hier- und Mitsein – in Zeiten von Social Distancing muss man dies als echte Wohltat bezeichnen! Wo wir uns aktuell begegnen, schauen wir oft verdutzt zur Seite oder gehen im großen Bogen umeinander. Der gute alte Fernsprechapparat hält zumindest den Eindruck einer Begegnung aufrecht. Überhaupt stellt er seit seiner Erfindung einen Zwischenkosmos für allerlei Illusionen dar.
In Filmen wie Truffauts „Die Frau von nebenan“ (1981) offenbart es sich als virtuelle Sphäre erotischen Begehrens. Um unbemerkt von ihren Partnern miteinander zu sprechen, nutzen hierin die Protagonisten, die in Nachbarschaft leben, das Telefon als versteckten Kommunikationsraum für ihre amouröse Beziehung.
Sehnsüchte und Abgründe
Weil sich in ihm allerlei Sehnsüchte und Abgründe manifestieren, hat Hollywood am Medium Telefon schon früh Lunte gerochen. Man denke an all die Hitchcock- und Horrorfilme, in denen der Apparat eine spannungssteigernde Funktion einnimmt.
Bis in die Ästhetik des Kinos wirkt dessen Erfindung hinein – spielte doch gerade die Gleichzeitigkeit im Fernsprechmodus für die Entwicklung der Parallelmontage in den frühen Werken von Filmpionier David W. Griffith eine bedeutende Rolle. Was die Traumfabrik uns seit mehr als einem Jahrhundert vor Augen führt, ist die theatrale, spielerische Kulisse des Telefons.
Ihm fehlt das Bild und darin liegt das Potenzial zur grenzenlosen Selbstinszenierung. Man denke nur an den Techniker Ebling aus Daniel Kehlmanns „Ruhm. Ein Roman in neun Geschichten“ (2009). Mithilfe des Handys vermag er in eine andere Persönlichkeit zu schlüpfen und mit einer ihm fremden Identität Chaos anzurichten.
Die reine „Privilegierung der Stimme“, wie Stefan Münker schreibt, lässt genügend Leerstellen und bietet reichlich Raum zum Experimentieren. Gerade weil wir auf einen Sinn beschränkt sind, wird unsere Fantasie auf das Höchste stimuliert. Telefonieren bedeutet daher auch Kopfkino, bestehend aus Bildern, die der Vorstellung des Abwesenden entspringen.
Statt dem Nebenherdaddeln im Netz und dem Parallelschreiben in diversen Chats erfordert das Telefon unsere maximale Aufmerksamkeit. Wir können uns ihm nicht entziehen. Es erweist sich Marshall McLuhan zufolge als „unwiderstehlicher Eindringling“. Noch drastischer formuliert Walter Benjamin in seinen Kindheitserinnerungen, dass man mit dem Abnehmen des Hörers „gnadenlos der Stimme ausgeliefert [war], die das sprach. Nichts war, was die unheimliche Gewalt, mit der sie auf mich eindrang, milderte“.
Eintritt in die Intimspähre
Sobald es klingelt, ereignet sich in der Tat der Eintritt des anderen in die Intimsphäre. An ihm exerziert die Moderne, dass die private Existenz vorbei ist. Denn während einst Beruf und Familie in unterschiedlichen Kosmen stattgefunden haben, markiert die Telekommunikation eine wesentliche Zäsur. Man ist fortan auch zu Hause für das Büro und umgekehrt erreichbar.
Dies trägt nicht nur wie in der TV-Serie „Mad Men“ zu einer zunehmenden Konfusion beim Organisieren von Affären und Geschäftsterminen bei, sondern stellt überdies den Beginn der Überwachungsgesellschaft dar. Eindrücklich belegt etwa Eugen Ruges Dystopie „Follower“ (2016) die ökonomischen und staatlichen Kontrollmechanismen, die mit der Datenerfassung durch das Smartphone, dem vorläufigen Gipfel der Weiterentwicklung des Telefons, einhergehen.
Telekommunikationsmittel, allen voran mit uns beinah verwachsene, organähnliche Handys, lassen uns auf beklemmende Weise gläsern werden und öffnen uns zugleich freudig für die Welt. Als einer der Ersten hat beispielsweise Ernst Jünger in seinem futuristischen Roman „Heliopolis. Rückblick auf eine Stadt“ von 1949 diese Ambivalenz zum Ausdruck gebracht.
Hierin erscheint der „Phonophor“, der sich als Frühform des Mobiltelefons versteht, als Instrument zur ultimativen Beherrschung der Bevölkerung, insofern jeder dadurch immer erreichbar und disziplinierbar ist, einerseits; andererseits geht von ihm die endgültige „Vernichtung der Einsamkeit“ aus. Man ist nicht mehr allein, sondern Teil eines Dialogs.
Im Gegensatz zum heute verstärkt schriftlichen Austausch via Chat und Kurznachrichten lädt das Telefonat explizit zum Gespräch ein. Als Voraussetzung gilt der Wille zum gegenseitigen Verstehen, zum empathischen Nachvollzug der Situation des verborgenen Gegenübers. In Pandemiezeiten tut die Möglichkeit der Annäherung über weite Strecken gut.
Position der Mitte
Aber auch für die Post-Corona-Ära könnten wir daraus wichtige Schlüsse ziehen. Lässt sich in den sogenannten sozialen Medien ein Trend zum gegenseitigen Anbrüllen und Beschimpfen beobachten, verlangt das Telefon von den Beteiligten eine Position der Mitte. Sein Kommunikationsangebot funktioniert nicht monodirektional, es bedarf des Austauschs. Es gibt sich inmitten einer erhitzten Konfrontationskultur als potenzieller neuer Träger einer Ethik des Zuhörens zu erkennen.
Der andere wird nicht als Teil eines uniformen Meinungsblocks identifiziert, seine Stimme weist vielmehr auf ein Individuum hin, das zunächst einmal anzuerkennen, ja zu würdigen jedes Ferngespräch gebietet.
Sollten wir somit auch zukünftig wieder verstärkt zum Hörer greifen? Unbedingt! Holt abseits des dauerpräsenten Smartphones das Telefon wieder aus der musealen Ecke hervor! Ob mit Wählscheibe oder Tasten, ob mit Kabel oder schnurlos – was wir im Laufe der letzten beiden Jahrzehnte als Nostalgikum wahrgenommen haben, könnte nunmehr ein Versprechen für die Zukunft sein. Also: Nehmt ab, seid anwesend, reoralisiert euch!
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