Telefonieren im Flieger erlaubt: Das Ende der Freiheit
Vorbei, über den Wolken unerreichbar zu sein: Die EU ebnet den Weg für Handy-Palaver im Flugzeug. Die stürzen davon nicht ab, die Passagiere aber in Verzweiflung.
"Der Dieter hat gestern Nacht mit der Juliane, richtig, und am Ende war die Juliane so besoffen und dann habe ich, ach, und dann voll auf die Fresse und dann sind wir alle genau. Und du so? Ach, schon wieder keine Kohle. Was gefeuert? Das Arsch!" Total nett, oder? Dank Handy darf man solchen Gesprächen mittlerweile überall lauschen, egal wie intim das Thema ist. Dass der Dieter mit der Juliane was auch immer gemacht hat, erzählen Dauertelefonierer überall: an der Supermarktkasse, im Bus, in der Bahn und bald auch im Flugzeug. Denn die Europäische Kommission hat am Montag europaweit eine einheitliche Regelung für Bordsysteme verabschiedet, die das Telefonieren im Flugzeug ermöglichen, ohne dass die Flugsicherheit gefährdet ist.
Als würde sich Deutschland nicht schon genug leerquatschen. Mit Betonung auf "leer", denn die ständige Möglichkeit der Kommunikation führt vor allem dazu, dass sich die Leute in der Öffentlichkeit über jedes noch so banale Thema auslassen. Nicht mit dem Sitznachbarn im Bus natürlich, warum auch mit Fremden reden! Es gibt ja das Handy!
Leider gibt es ein paar Unterschiede zwischen Bus und Flugzeug. Einmal in der Luft, kann niemand mehr aussteigen. Entnervt den Platz wechseln? Geht nicht, Flugzeuge sind in der Regel ausgebucht. Der ordinäre Economy-Bucher sitzt fest. Eingepfercht in einen beengenden Sessel samt zärtlichem Ellbogenkontakt mit dem Sitznachbarn. Dazu bald Dauergespräche über intime Details aus dem Leben der Passagiere. Ungewollte Anteilnahme an geschäftlichen Interna, die schnell noch zwischen Frankfurt und New York ausdiskutiert werden.
Dabei war doch das Flugzeug der letzte öffentliche Raum, in dem selbst Börsianer stundenlang nicht erreichbar sein durften. Der Satz "Sorry, ich war im Flieger" wurde vom Chef und von den Kollegen kommentarlos akzeptiert. Die Zeit ist vorbei. Büro ist überall. Auch über den Wolken, wo die Freiheit doch eigentlich unbegrenzt ist. Wer nicht mehr zum Abschalten seines Handys gezwungen wird, hat auch keine Möglichkeit mehr, im Flieger einfach mal den Jobstress auszuschalten.
Und wie funktioniert diese Technik, die Quasseln auch im Flieger ermöglicht? Im Flugzeug selber wird ein Mobilfunknetz aufgebaut. Eine kleine Sendestation an Bord sorgt dafür, dass erstens das eigene Mobilfunknetz blockiert und zweitens die ganze Kommunikation zentral über einen Satelliten an eine Bodenstation unten auf der Erde geschickt wird, die dann wiederum eine Verbindung zu dem jeweiligen Handynetz herstellt. Das ist weder gefährlich noch ungesund, versichert Martin Selmayr, Sprecher der Europäischen Kommission. Und falls es doch mal zu Turbulenzen kommt, kann der Flugkapitän das ganze System mit einem Knopfdruck abschalten.
Kein Grund zur Panik also. Oder gibt es doch Restrisiken? Schließlich war "Sitze senkrecht, Tisch hochklappen, Handy aus" das Gebet, mit dem jede Stewardess den Abflug einleitete. Jetzt heißt es plötzlich: Wir sterben gar nicht sofort, wenn wir im Flugzeug vergessen, das Telefon auszuschalten. "Telefonieren im Flugzeug war eigentlich nie gefährlich, anfangs waren wir verständlicherweise sehr vorsichtig", erklärt Michael Lamberty von der Lufthansa. Auf die fliegenden Blechriesen drängen sowieso so viele Funkwellen ein, dass sie ganz schön resistent sein müssen. Das bisschen Handynetz macht da keinen Unterschied. Nur wirklich sicher waren sich die Fluggesellschaften in dieser Sache nie. Und vom Gegenteil wollte sich in 3.000 Meter Höhe niemand überzeugen lassen. Selmayr von der EU rät auch jetzt noch davon ab, das Handy einzuschalten, solange die neue Technik nicht installiert ist. Man weiß ja nie! Was Telefonieren aus dem Flugzeug kosten soll, ist noch nicht ganz klar. Die EU-Kommission will aber darauf achten, dass die Preise nicht zu hoch werden.
Das neue Netz soll übrigens einwandfrei und stabil funktionieren. Keine Gefahr also, dass der Typ Bahntelefonierer, der nicht versteht, dass der Handyempfang auch nicht besser wird, wenn man lauter in sein Telefon schreit, auch im Flugzeug Dauergast ist. Dafür hören die Leute in der Kabine mitunter nicht mehr richtig, weil sie Druck auf den Ohren haben. Und dann fangen sie vermutlich doch wieder an, laut zu brüllen.
Es gibt auch einige Fluggesellschaften, die nicht mitmachen wollen bei dem Handywahn. Lufthansa und Air Berlin zum Beispiel. Der Grund: Kundenbefragungen haben ergeben, dass die Mehrheit der Fluggäste das Telefonieren an Bord als Störung empfindet.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen