Teilhabe für Behinderte: Palmen, Politik und Partizipation

Kürzlich tagte das Berliner Behindertenparlament erstmals im Berliner Abgeordnetenhaus. Es ging um Sichtbarkeit, Austausch und Forderungen.

Rollstuhlfahrer:innen im Berliner Abgeordnetenhaus.

Das Behindertenparlament im Berliner Abgeordnetenhaus am 3. Dezember Foto: Toni Petraschk

BERLIN taz | Im Plenarsaal des Berliner Abgeordnetenhauses tagt an diesem Samstag ein besonderes Parlament. Es sind hundert Menschen mit Beeinträchtigungen. Sie scheinen die gesamte Bandbreite von „irgendwie-anders-besonders“ zu vertreten. Manche sprechen anders. Aber sie sprechen. Manche können nicht laufen. Aber sie rollen (sich). Manche trauen sich kaum. Aber sie hören zu. Manchen sind andere Menschen schnell zu laut und zu viel. Aber sie sind dort. Sie alle vertreten ihre Interessen gegenüber Po­li­ti­ke­r:in­nen und Behörden.

Das Abgeordnetenhaus ist ein Bau mit hohen Decken – ein geschichtsträchtiger Ort. „Demokratie zähmt Macht“ sagte etwa Hanna-Renate Laurien schon zur Wendezeit. Sie war damals die Präsidentin des Parlaments. An der Eingangstür führen Po­li­zis­t:in­nen eine Sicherheitskontrolle wie auf dem Flughafen durch, und in der Empfangshalle stehen Palmen an den Treppen. Es ist ein prächtiges Stück Berlin mit roten Teppichen und Säulen. Außerdem befindet sich dort der wahrscheinlich einzige BVG-Automat in einem Haus ohne Bahnhof.

Der derzeitige Präsident des Abgeordnetenhauses heißt Dennis Buchner. Er spricht ein paar Worte zu Beginn der Veranstaltung im Plenarsaal. Das Behindertenparlament „stößt Veränderungen an und gibt konkrete Forderung an die Hand“, sagt er. Das verdiene seinen Respekt. Ein Vorbereitungsteam aus Einzelpersonen und Organisationen macht seit 2020 auf die Bedarfe von mindestens 9 Prozent der Berliner Bevölkerung aufmerksam.

Es fehlt an Grundlegendem

Chronisch Kranke und Menschen mit Beeinträchtigungen haben mit diesem Parlament ein eigenes Gremium. Letztes Jahr konnte die erste Zusammenkunft wegen der Coronapandemie online erfolgen, vorletztes Jahr als Open-Air-Veranstaltung – und jetzt, an diesem dritten Dezember, dem internationalen Tag der Menschen mit Behinderung, tagt es also im Abgeordnetenhaus.

Neben der Standardsprache besteht an diesem Tag die Möglichkeit, mit Gebärden, über das geschriebene Wort, online und in leichter Sprache an der Sitzung zu teilzunehmen. Christian Specht, der Erdenker des Berliner Behindertenparlaments, sitzt stattlich mit Jackett auf dem Präsidiumsplatz und heißt ebenfalls willkommen.

Die Stimmung ändert sich mit Beginn der Fragen an die Abgeordneten. Die Anwesenden werden ruhiger, die Beiträge werden ernster. Aus den Wortmeldungen geht hervor, wo genau die Barrieren vor Menschen mit Behinderung stehen.

Es wird über Inklusionstaxis (zu hohe Eigenbeteiligung), über Ausbau von Wohnungen ohne Barrieren (Geld reiche nicht für Umbau), über die Notwendigkeit von barrierefreien Elementen auf Spielplätzen (Bausenat antwortet sinngemäß, jemand solle etwas irgendwann auf irgendeinen Weg bringen), über Assistenzen (Geldzuschüsse für Ar­beit­ge­be­r:in­nen mit Behinderung sollten gezahlt werden) und über Menschen, die mit Beeinträchtigten arbeiten, gesprochen (diese könnten auch eine Barriere darstellen).

Nach Bremer Vorbild gründete sich die Berliner Variante unter Leitung von Christian Specht. Um ein Teil dieser inklusiven Idee zu werden, war es im Vorfeld möglich, sich zu bewerben. Als Abgeordneter des Behindertenparlaments kann man selbst oder ein Stellvertretender in Fokusgruppen mitwirken. Diese Gruppen erarbeiten Anträge zu wichtigen behindertenpolitischen Anliegen. Am Parlamentstag werden die Anträge diskutiert und abgestimmt. Alle beschlossenen Anträge werden an die Senatverwaltungen übergeben – mit der Forderung, diese umzusetzen und Berlin so inklusiver und barrierefreier zu machen. Über die Teilnahme am Parlamentstag entschied ein Losverfahren.

Ein Sozialticket, günstiger als 29 Euro pro Monat

„Wir sind noch nicht da, wo wir sein müssen“, gibt Bettina Jarasch (Grüne) zu. Sie ist neben anderen Se­na­to­r:in­nen erschienen, um sich die Belange des Behindertenparlaments anzuhören. Die Po­li­ti­ke­r:in­nen gehen darauf ein und beschreiben gleichermaßen, was schon erreicht worden ist.

Zum Beispiel werde das ÖPNV-Ticket bereits vor der bundesweiten Regelung für 29 Euro angeboten und ab Januar 2023 solle zusätzlich ein Sozialticket für 9 Euro erhältlich sein, hebt Sozialsenatorin Katja Kipping (Linke) hervor. Das helfe auch den Menschen mit Beeinträchtigungen, die Grundsicherung beziehen. Für die U-Bahnhöfe ohne Fahrstuhl gebe es den Rufbus „Muva“, der derzeit in den östlichen Bezirken erprobt werde, fügt Bettina Jarasch hinzu. Damit könne die Treppe umfahren werden.

Eine häufige Frage ist: Wann? Wann wird eine Verbesserung umgesetzt, wann können wir mit Konkretem rechnen? Die Antwort darauf ist, dass die Bürokratie der Ausschreibungen und Anträge viel Zeit kosten. Das bezeichnet Kipping als „echten Mist“. Doch zumindest was den Partizipationsfonds betrifft, wird es nun konkret: Das Geld für die Arbeit für politische Mitbestimmung von Verbänden solle im kommenden Jahr ausbezahlt werden.

Die Schwierigkeiten beträfen allerdings nicht nur Menschen mit kognitiven und körperlichen Behinderungen, sondern auch psychisch Kranke. Darauf weist eine Parlamentarierin hin, die sich online zugeschaltet hat. Menschen mit seelischen Problemen hätten oft nicht den Mut, für sich zu sprechen und seien nicht in der Lage, auf ein Amt zu gehen, um sich Unterstützung zu holen. „Das muss einfacher werden“, fordert auch ein anderer Stimmberechtigter. Und so wird laut über eine Akademie nachgedacht, die Schulungen zur Qualifizierung für Helfende und Verwaltungsangestellte anbietet.

Anstrengend, wichtig und erfolgreich

Schon im Vorhinein war darüber gesprochen worden, wie man den Tag so gestalten kann, dass er für alle Teilnehmenden machbar wäre. Das hieß: Pausen einplanen – drei Stück sind es, in denen Essen und Getränke bereitstehen. So ist es für alle, die damit sonst Probleme hätten, einfacher, sich zu konzentrieren.

Wer die Pausen nutzt, um sich umzuschauen, hat vor dem Saal viel zu entdecken: Es hängen dreieckige und halbrunde Glasscheiben von der Decke, die bestimmt gut gesichert sind. Licht kommt aus schief hängenden Vorrichtungen, die wie überdimensionierte Schultüten aussehen. Das Mittagessen steht in einem zugigen Raum, der Casino heißt, bereit.

Als sich der Arbeitstag dem Ende zuneigt, wird der Ablauf etwas chaotisch. Es scheint nicht immer klar zu sein, über was geredet werden soll. Die Sprecher der Fokusgruppen bemühen sich, ihre Anträge vorzubringen.

Schlussendlich wird jeder einzelne Antrag mit Forderungen von einer Mehrheit des Behindertenparlaments angenommen. Vielleicht wäre es gut gewesen, die Po­li­ti­ke­r:in­nen abstimmen zu lassen. Das hätte einen Eindruck gegeben, ob und inwieweit die Forderungen tatsächlich umgesetzt werden könnten.

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