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Teilhabe für ArmutsbetroffeneWenn Verwaltung es nicht hinkriegt

Seit der Abschaffung des Berlin-Passes gibt es Probleme mit Vergünstigungen wie dem Sozialticket. Betroffene klagen über Diskriminierung.

Vor dem Gang ins Schwimmbad müssen schonmal 6-DIN-A4-Seiten Leistungsbescheid ausgepackt werden Foto: Jochen Eckel/imago

Berlin taz | Annette Schmidt* trauert dem Berlin-Pass immer noch nach, dabei wurde er vor zwei Jahren abgeschafft. „Alles war so einfach damit, man hatte einen Nachweis für das Sozialticket und kam günstig ins Schwimmbad, Kino oder in Volkshochschulkurse. Jetzt ist alles unsicher und kompliziert.“

Mit ihrer Forderung, den Berlin-Pass wiederauferstehen zu lassen, steht die Mittvierzigerin nicht alleine. Jeden Dienstag trifft sich Schmidt im Infoladen Lunte in der Neuköllner Weisestraße mit anderen Betroffenen und linken Aktivisten. Die Gruppe nennt sich „Bewegung 9-Euro-Ticket“ und befasst sich mit den Folgen der Abschaffung des Berlin-Passes.

Was macht eigentlich?

Die meisten Geschichten enden nicht einfach, nachdem in der taz darüber berichtet wurde. Deshalb haken wir noch einmal nach: In unserer Serie „Was macht eigentlich ?“ rund um den Jahreswechsel 2024/25 erzählen wir einige Geschichten weiter.

Im Fokus der Aktivist:innen: der Verlust des Sozialtickets, nach seinem aktuellen Preis auch 9-Euro-Ticket genannt. „Es ist ein Skandal, über den keiner spricht“, fasst Tim* die Ansicht der Gruppe zusammen. „Die Politik schafft ein funktionierendes System ab und führt etwas ein, das nicht funktioniert. Ausbaden müssen es die Armen.“

Der Berlin-Pass war 2009 eingeführt worden, um Empfängern von Sozialleistungen die Teilnahme am kulturellen und sozialen Leben zu erleichtern. Möglich wurde so der Besuch in vielen Theatern, Kinos, Schwimmbädern, Volkshochschulen etc. zu vergünstigtem Eintritt. Zudem erhielten die Inhaber das Sozialticket, das früher 27 Euro kostete und im Corona-Jahr 2021 auf 9 Euro verbilligt wurde. Das aufklappbare Papier im Scheckkartenformat wurde in den Bürgerämtern ausgestellt und verlängert.

Entlastete Verwaltungen

2022 gab es laut Sozialverwaltung rund 169.000 Berlin-Pass-Inhaber bei eigentlich 600.000 Berechtigten. Sprich: Nur ein Viertel der Berechtigten hat die Leistung zuletzt in Anspruch genommen. Grund dafür seien in der Corona-Zeit eingeführte Änderungen gewesen, so ein Sprecher der Sozialverwaltung. Unter anderem habe man ein schriftliches Antragsverfahren bei den Bürgerämtern eingeführt.

So war die Nutzung des Berlin Passes schon seit einiger Zeit erschwert und entsprechend weniger geworden. Zum 1. Januar 2023 wurde der Berlin-Pass dann abgeschafft. Begründung: Die überarbeiteten Bürgerämter müssten entlastet, die Verwaltung digitalisiert werden. Ersteres sei auch geschehen, so die Sprecherin des Senats, Christine Richter: Es seien „spürbare Kapazitäten an Terminen für die Kerndienstleistungen der Bürgerämter frei geworden, weshalb deutlich mehr Termine vergeben werden können.“

Für die Betroffenen waren die Effekte weniger positiv, fortan klappte nichts mehr. Der Nachfolger des Berlin-Passes namens „Berechtigungsausweis“ sollte von der jeweiligen Behörde automatisch verschickt werden, von der Transferleistungen bezogen werden. Darin sollte sich ein QR-Code befinden, mit dem bei der BVG eine VBB-Kundenkarte Berlin S beantragen werden könnte – nur mit dieser ist das Sozialticket nutzbar.

Doch die Ämter – Jobcenter, Sozialamt, Wohnungsamt, Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten –, verschickten die Berechtigungsausweise oft viel zu spät, es gab Berichte von technischen Probleme mit dem QR-Code, viele Kunden verstanden das neue System auch nicht. Darum galt zunächst eine „Übergangsregelung“, wonach der Nachweis ausreichte, dass man Leistungen von einer Sozialbehörde erhält, um mit dem Sozialticket fahren zu dürfen.

Ungerechtfertigte Knöllchen

Als diese Regelung im Oktober 2023 auslief, bekamen Tausende Betroffene bei Fahrkarten-Kontrollen ein „erhöhtes Beförderungsentgelt“ (EBE) aufgebrummt, weil sie keine VBB-Kundenkarte S hatten. Was weiterhin allerdings nicht an ihnen, sondern an den Behörden lag, die die „Berechtigtenausweise“ nicht ordentlich verschickten.

Damals gründete sich die Bewegung 9-Euro-Ticket, erinnert sich Tim. „Wir gingen in den Sozialausschuss des Abgeordnetenhauses, wo das Thema auch auf unsere Beschwerde hin diskutiert wurde, wir verteilten Info-Zettel vor den BVG-Kundencentern, wo die Leute deswegen Schlange standen.“ Dass die Politik im Januar 2024 reagierte und die „Übergangsregelung“ wieder in Kraft setzte, die bis heute gilt, verbucht Tim als Erfolg.

„Nur weil sich so viele beschwert haben, wurde diese VBB-Karte wieder abgeschafft“, sagt er. Aber bis heute gebe es viele Probleme: Was sei zum Beispiel mit den EBEs, die viele Menschen ohne eigenes Verschulden bekamen? „Manche haben sogar schon Mahnungen bekommen, da drohen demnächst Ersatzfreiheitsstrafen“, sagt Tim.

Auch Christiane* und Anna*, die beim Treffen in der Lunte dabei sind, haben Post von Inkassounternehmen bekommen, beide haben drei EBE trotz Sozialticket bekommen. Insgesamt hat die BVG laut einem Sprecher in 2023 rund 21.600 EBE in Verbindung mit dem Sozialticket ausgestellt, 2024 waren es rund 5.700. Zeigen Menschen binnen einer Woche ihr Sozialticket nach, wird das EBE bis auf 7 Euro „Verwaltungsgebühr“ erlassen.

Ungewisse Zukunft

Unklar ist, wie es weitergeht. Die bisherige „Übergangsregelung“ sei keine gute Lösung, sagen Annette, Christiane und Anna übereinstimmend. Es sei „stigmatisierend“, wenn man in Bus und Bahn vor anderen Menschen den Leistungsbescheid einer Behörde, ein weißes DIN-A-4-Blatt, vorweisen muss. „Das ist gerade in dieser aufgeheizten Stimmung, wo viel gegen Bürgergeld-Empfänger gehetzt wird, eine Demütigung“, sagt Annette.

Auch Christoph Dittrich vom 9-Euro-Fonds kritisiert die „Diskriminierung bei der Kontrolle“, wenn man seinen Leistungsbescheid vorzeigen muss. Dies sei zudem ein Verstoß gegen Datenschutzbestimmungen. Der 9-Euro-Fonds bezahlt Menschen, die bei einer Fahrkartenkontrolle erwischt werden, das EBE.

Dennoch wird die „Übergangsregelung“ vorerst bestehen bleiben. Bis Ende Juni 2025 gelte sie weiter, so der Sprecher der Sozialverwaltung. Zunächst hatte man dort an eine App gedacht, mit der Sozialleistungsbezieher ihre Berechtigung nachweisen können – aber das geht nicht wegen Datenschutzbestimmungen. Seither arbeite man an einer neuen Lösung, erklärte der Sprecher. Wie die aussieht, sei völlig offen. Gut möglich also, dass das derzeitige Verfahren eine Dauerlösung wird.

Ein weiteres Problem: Die vergünstigten Eintritte gibt es offenbar auch nicht mehr überall. So berichtet Anna, sie sei kürzlich bei der Volkshochschule abgeblitzt, als sie mit ihrem Leistungsbescheid vergünstigt eine Veranstaltung besuchen wollte.

Der Sprecher der Sozialverwaltung widerspricht: Weiterhin sollten berechtigte Personen von den Ermäßigungen profitieren können. Man wisse aber, „dass es in einigen Fällen noch zu Missverständnissen oder Schwierigkeiten kommen kann“. Er verspricht, man werde mit den betroffenen Einrichtungen „Lösungen finden“.

Sozialticket deutlich verteuert

Für großen Unmut sorgt auch die drastische Verteuerung des Sozialtickets: Ab April 2025 wird es auf 19 Euro pro Monat erhöht. Dittrich vom 9-Euro-Fonds nennt diesen 111-prozentigen Aufschlag „unverschämt“. Der SPD-Sozialpolitiker Lars Düsterhöft erklärte kürzlich: Die Absenkung auf 9 Euro sei seinerzeit als „Unterstützungsmaßnahme und zur Entlastung der Menschen in Berlin in der Krise“ erfolgt. Diese Krise sei nun vorbei.

In der Lunte kann man darüber nur den Kopf schüttern. Tim: „In welcher Welt leben solche Menschen eigentlich?“

*Namen auf Wunsch geändert

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