Tauber Spitzensportler: Stark in der Stille
Ist es möglich, ohne Gehör Weltklassetennis zu spielen? Der Südkoreaner Duck Hee Lee, 18, ist auf dem besten Weg dahin.
Die Geschichte des südkoreanischen Tennis-Newcomers Duck Hee Lee wäre an sich schon bemerkenswert: Aufgewachsen in einem Land, das alles andere als der Nabel der Tenniswelt ist, aus dem sich noch nie eine Spielerin oder ein Spieler in den Top 30 platziert hat, schaffte Lee es bei den Junioren auf Rang 3 der Weltrangliste. Vor drei Jahren war das. In der Zwischenzeit hat er zehn Turniertitel bei den Future Series der Männer gewonnen und ist, mit gerade 18 Jahren, die Nummer 149 der Welt – bei den Profis.
Kennt man die ganze Biografie des Duck Hee Lee, so ist dessen Werdegang fast sensationell. Denn Lee nimmt das gesamte Spiel völlig anders wahr als fast alle seine Kontrahenten. Das Zischen beim Schlagen, der Applaus, die Schritte, das Rutschen, das Geächze und Gestöhne auf dem Platz: für ihn existiert all dies nicht. Lee ist gehörlos, von Geburt an.
Schon jetzt ist er der bislang erfolgreichste Spieler mit diesem Handicap im Tennis – und er steht ja erst am Anfang seiner Karriere: „Wie es sich wohl anfühlt, einen Grand-Slam-Titel zu holen? Ich glaube, wenn ich so weitermache, kann ich eines Tages ein großes Turnier gewinnen“, schreibt er in einem Interview via Mail. Tennis sei seine große Passion – daneben existiere für ihn kaum etwas anderes.
Von kommender Woche an nimmt der nur 1,75 Meter große Lee bei den Australian Open einen weiteren Anlauf, das Hauptfeld eines Grand-Slam-Turniers zu erreichen. Vergangenes Jahr ist er dreimal in der Qualifikation gescheitert, zuletzt aber zeigte die Formkurve nach oben: Lee stand in der zweiten Saisonhälfte 2016 bei vier Challenger-Turnieren im Halbfinale, bei einem im Finale.
Lees Erfolg wirft eine grundsätzliche Frage auf: Ist es möglich, die Weltspitze im Tennis zu erklimmen, ohne Klänge wahrzunehmen?
Das Geräusch des Balls
Andy Roddick, ehemalige Nummer 1, sagte einmal während eines Wimbledon-Turniers: „Ich glaube, man muss den Ball klar hören können, um Höchstleistungen zu bringen. Der Sound, wenn der Gegner den Ball trifft, gibt dir die erste Information darüber, wie der Ball kommt – noch bevor du den Ball siehst.“ Spitzenspielerinnen von einst und jetzt wie Martina Navratilova und Andy Murray äußerten sich ähnlich. Der Heidelberger Sportwissenschaftler Michael Müller, der seine Diplomarbeit über das Tennistraining für Gehörlose schrieb, sagt: „Für uns hörende Spieler scheint der Klang beim Schlagen unverzichtbar. Ob es ein Top-Spin, ein Slice oder ein Rahmentreffer ist – all das nehmen wir ja akustisch wahr. Selbst das Rutschen des Spielers auf einem Ascheplatz kann uns etwas über die Bewegung des Gegners verraten.“
Lee kommt ohne all dies aus. Wie macht er das?
Duck Hee Lee ist 1998 geboren und in Jecheon groß geworden, einer kleineren Großstadt ziemlich genau in der Mitte Südkoreas. Er entwickelt sich anders als die anderen Kinder. Die Eltern rätseln, warum. Erst, als er zwei ist, lassen sie ihn in einem Seouler Krankenhaus durchchecken. Ergebnis: Das Kind ist komplett taub.
Lee besucht zunächst eine Schule für Menschen mit Beeinträchtigung – davon abgesehen sorgen seine Eltern aber dafür, dass er so normal wie möglich aufwächst. Dazu gehört vor allem für den Vater, ehemaliger Leistungssportler im Schwimmen, Bewegung und Sport. Durch seinen Cousin entdeckt Lee dann mit sieben Jahren das Tennisspielen – die Eltern ermutigen ihn, es selbst zu probieren. Cousin Chunghyo Woo wurde so zu Lees Trainer – und ist es bis heute.
Lippen lesen
Das größte Problem für gehörlose Sportler ist die Kommunikation mit Trainern, Mitspielern und Schiedsrichtern. Lee hat früh gelernt Lippen zu lesen. „Absehen“ nennen die Gehörlosen das. Damit können aber in der Regel nur 30 Prozent des Gesagten eins zu eins verstanden werden. Gebärdensprache nutzt Lee nicht. Weil sein Coach Woo ihn aber von Kindesbeinen an kennt, ist die Verständigung mit ihm eingespielt: „Vor dem Training sprechen wir immer das gesamte Programm für die Einheit durch. Auch zwischen den Übungen sprechen wir uns ab.“
Bei den Turnieren gibt es dagegen Probleme. Standardzeichen oder Gesten für Gehörlose kennen die Schiedsrichter im Profitennis nicht, so muss Lee sich individuell mit jedem Unparteiischen absprechen, zur Not mit Händen und Füßen. „Schwierig ist es besonders bei Netzrollern, weil ich weder die Berührung des Netzes noch den Ruf des Schiedsrichters wahrnehme. Manchmal glaube ich dann, mein erster Aufschlag sei im Aus gewesen. Ein echter Nachteil.“ Seine eigene Performance hat sein Handicap seines Erachtens jedoch nie beeinflusst.
Duck-Hee Lee
Wie gut Gehörlose im Leistungssport inkludiert werden können, ist von Sportart zu Sportart unterschiedlich. „In Schwimm- oder Laufwettbewerben kommt es zum Beispiel auf jede Millisekunde, auf jeden Zentimeter an. In diesen Disziplinen kann es keine Inklusion geben, denn der Gehörlose ist auf optische Signale angewiesen – somit ist seine Reaktionszeit beim Start viel langsamer bei einem Hörenden“, sagt Petra Brandt, Vizepräsidentin des Deutschen Gehörlosen-Sportverbands (DGS). Auf akustische Reize reagiert der Mensch schneller (140 Millisekunden) als auf visuelle (180 Millisekunden) – im Tennis wiegt dieser Nachteil offenbar nicht ganz so schwer. Und im Breitensport, so Brandt, sei Inklusion schon deshalb überall einfacher, weil der Leistungsgedanke nicht im Vordergrund stehe. Viele gehörlose Sportler seien in ganz „normalen“ Sportvereinen und in Klubs für Gehörlose zugleich (zum Gehörlosensport siehe Kasten).
Oft haben Hörgeschädigte auch Schwierigkeiten die Balance zu halten und sind koordinativ nicht so stark – das liegt daran, dass das Ohr Hör- und Gleichgewichtsorgan zugleich ist. Lee hat von früh auf seine Körperwahrnehmung so gut trainiert, dass er es ausgleichen kann. In vielen Sportarten – auch im Tennis – tragen die Gehörlosen wegen dieser Nachteile eigene nationale und internationale Meisterschaften aus. Mit den Deaflympics gibt es zudem vierjährig Spiele für gehörlose Menschen.
Die Bewegungen des Gegners
Kompensieren können Gehörlose vor allem mit den anderen Sinnen – bei Lee gelingt dies unglaublich gut. „Gehörlose sind in der Regel visuell sehr stark, sie können sich zum Beispiel extrem gut Bilder einprägen“, sagt Sportwissenschaftler Müller. Das Gedächtnis für Muster und Bewegungen, so zitieren es Studien bis heute, ist bei ihnen besser als bei Hörenden. Für Lee ist das scharfe Beobachten des Spielverlaufs das A und O: „Ich verfolge die Bewegung des Gegners und die Flugkurve des Balles sehr genau und bis ins Detail. Vor und nach dem Spiel schaue ich mir sehr viele Videos von anderen Spielern an.“ Lee selbst agiert meist von der Grundlinie aus, seine Stärken sind eine wuchtige Vorhand, gute Länge in den Grundschlägen und ein trotz seiner geringen Körpergröße harter Aufschlag.
Ohne frühe sportartspezifische Förderung, so Müller, sei eine Karriere wie jene Duck Hee Lees nicht denkbar. Gehörlose im Spitzensport sind auch bis heute eher Ausnahmeerscheinungen. Im American Football, Rugby und Boxen gab und gibt es prominente Beispiele – etwa Football-Spieler Derrick Coleman, der mit den Seattle Seahawks den Super Bowl gewann. Im Tennis sind Lees Erfolge bislang vergleichslos. Zu den erfolgreichsten gehörlosen Spielern hierzulande zählen derzeit Heike Albrecht, 26, und Urs Breitenberger, 29 – beide holten im Gehörlosentennis zahlreiche Titel, Breitenberger wird Mitte Januar dank einer Wildcard bei den Koblenz Open sein erstes ATP-Turnier spielen.
„Köln“ ist zur Chiffre geworden für Silvesternächte, die aus dem Ruder laufen. Was diesmal wirklich passiert ist und was daraus folgt, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 7./8. Januar 2017. Außerdem: Die digitale Patientenkarte ist Pflicht beim Arztbesuch. Unsere Autorin will sich dem System verweigern, weil sie Angst vor Datenmissbrauch hat. Geht das? Und: Der zweite Band der neapolitanischen Saga „Meine geniale Freundin“ ist erschienen. Andreas Fanizadeh hat ihn gelesen. Das alles und noch viel mehr – am Kiosk, eKiosk oder im praktischen Wochenendabo.
Lee will bei den Profis ganz nach oben, irgendwann die Nummer 1 der Welt sein. Sein Karriereplan scheint schon jetzt darauf ausgerichtet: Ein Automobilhersteller sponsert ihn, Cousin und Coach Chunghyo Woo begleitet ihn das ganze Jahr über und hilft ihm auch bei der Kommunikation, einen Manager hat er ebenfalls. Ziel in diesem Jahr: „Einen Challenger-Titel holen und eine gute Tour spielen.“
In seinem Heimatland gibt aktuell nicht nur Lee Anlass zur Hoffnung, sondern auch der zwei Jahre ältere Chung Hyeon, aktuell 104 der Weltranglisten. Der nationale Verband hofft nun auf einen Boom, sogar die Weltgruppe im Davis Cup, in der man seit 2008 nicht mehr war, scheint in Sicht. Für Lee ist die Konkurrenz zu Hyeon ein weiterer Ansporn – bei dem jüngsten Duell unterlag er ihm in zwei Sätzen.
Seinen vermeintlich größten Nachteil deutet er ohnehin lieber in einen Vorteil um: „Weil ich nichts höre, kann mich voll und ganz aufs Spiel konzentrieren. Ich werde nicht so leicht abgelenkt wie andere Spieler.“ Bei dem Ehrgeiz, den Lee an den Tag legt, klingt das fast wie eine Drohung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“
Spardiktat des Berliner Senats
Wer hat uns verraten?
Autounfälle
Das Tötungsprivileg
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!