Tanztheater mit Shaolin-Mönchen: Der kleine Weltenschöpfer

Europäische Lässigkeit trifft konzentriertes Kung-Fu in der Manege der Weltreligionen. In Berlin gastieren Sidi Larbi Cherkaoui und die jungen Mönche eines Shaolin-Klosters mit "Sutra".

Chinesisches Bewegungsvokabular im europäischen Anzug. Bild: Berliner Festspiele/Hugo Glendinning

Das Bühnenbild aus Kisten gibt es gleich zweimal in "Sutra", dem Tanzstück, das Sidi Larbi Cherkaoui zusammen mit 17 jungen Mönchen aus einem chinesischen Shaolin-Kloster entwickelt hat. Einmal als kleines Modell am linken Bühnenrand, wo der Choreograf selbst und ein Junge von 11 oder 12 Jahren mit den handgroßen Kisten wie mit Bauklötzen spielen. Und einmal aus großen, mannshohen Kisten, die von den hübschen Kerlen mit den kahl geschorenen Köpfen unentwegt umgebaut werden, zu einem Wald oder einer Festung, einer Insel und einem Boot, einer Stadt, einer Mauer, Tempeltoren und gar einer sich öffnenden Lotusblüte. Und immer ist, wenn man links schaut, dort schon kurz vorher die große Formation, die gleich entsteht, im Kleinen zu sehen.

Selbst in dem Moment, in dem der Junge die in einer langen Diagonalen aufgestellten Kisten, jeweils mit einem Mann bestellt, antippt und in einer harten Bewegung umfallen lässt wie die Dominosteine. Ein theatraler Effekt und ein kleiner Jungenstreich: aber zugleich die Vergewisserung, dass selbst im Augenblick des Schreckens ein Plan waltet. Sie spielen Weltenschöpfer, der kleine Junge und der Choreograf.

Cherkaoui selbst inszeniert sich dabei als Außenseiter dieser Welt, ein willenloser Kasper manchmal und ein naiv Staunender zudem, der mit großen Augen durch die Welt läuft. Einmal dirigiert er das oben auf den Kisten sitzende Ensemble der Männer durch eine anmutig verspielte und äußerst beredte Bewegungssequenz allein für Arme und Hände. Dann folgt er ihren Figuren des Kung-Fu mit einer lässigen und leicht müden Präsenz; er, der erschöpfte Europäer, der hier neue Kraft findet. Manchmal bleibt er schlicht außen vor, von den bewegten Kistenmauern auf den Zuschauer zugeschoben.

"Sutra", das im Mai in London herauskam und nun erstmals in Deutschland, für vier Tage im Haus der Berliner Festspiele, zu sehen ist, ist benannt nach einem Sammelbegriff für die Lehren Buddhas. Es ist ein höchst ungewöhnliches Stück. Nicht nur, weil ein in Europa gefeierter Choreograf flämisch-marokkanischer Herkunft, mit den Mönchen eines berühmten Shaolin-Tempels der chinesischen Provinz Henan zusammenarbeitet, sondern vor allem, weil dies so verdächtig widerstandslos gelingt. Man mag kaum glauben, dass diese Performer keine professionellen Tänzer sind, zumal unter denen in den letzten zwei Jahrzehnten Kung-Fu und andere Martial Arts als neue Körpertechniken sehr beliebt waren. Diese Showtalente, die im schwarzen Anzug umso vieles urbaner aussehen als in ihren klassischen Kostümen, sollen also irgendwann in ihr ungeheiztes Kloster hoch in den Bergen zurückkehren? Aber doch wenigstens mit Mobiltelefonen, wie der Choreograf feststellte.

Ihre Kunst ist außerordentlich, keine Frage, und dafür sind sie ja nicht nur in China beliebt, sondern werden schon seit Jahrzehnten vom Kino umworben. Wie sie aus den Kisten schnellen, beinahe explodieren, wie von Federn hochgeschossen; wie sie in Rückwärtssprüngen lange Bögen durch die Luft zeichnen, Saltos schlagen und Räder; wie sie mit Lanzen, Stöcken und Hellebarden den Kampf zelebrieren oder sich von Affen, Schlangen, Tigern und Skorpionen Taktiken und Bewegungsformen leihen, entfalten sie ein Bewegungsvokabular, das zu lesen das Tanzpublikum wohl nur bedingt in der Lage ist. 708 Bewegungsfolgen und 552 Schlagsequenzen kennt ihre Schule des Kung-Fu, und in dieser Zahl kommt eine Differenziertheit zum Ausdruck, die wir, zumal in der Schnelligkeit, kaum erkennen können.

So sehr dies begeistert, liegt darin auch ein Problem: Trotz des raffinierten Bühnenbildes aus den Kisten, die der englische Künstler Antony Gormley für "Sutra" vorgeschlagen hat, trotz der romantisierenden und fragilen Musik des polnischen Komponisten Szymon Brzóska, die für die Mönche eine ziemlich unerhörte Angelegenheit war, bleibt das Stück doch bei der Struktur einer Revue, die ihre kunstvollen Nummern sehr sorgfältig aufbaut. Es steckt viel Kunstwollen in dem Zusammenbringen der unterschiedlichen Elemente. Es zeugt zwar von großen Respekt, wie Sidi Larbi Cherkaoui die Bewegungssprache der Shaolin keiner Vereinnahmung unterwirft, und dennoch erinnert sein Gestus an einen reisenden Sammler, der seine gefundenen Schätze vorführt.

"Sidi Larbi ist nicht religiös, sondern hebt Weltreligionen wie Schätze", schrieb Arnd Wesemann in einem Porträt des Choreografen, den Tanzkritiker 2008 in einer Umfrage der Zeitschrift ballettanz zum Choreografen des Jahres wählten. Jetzt ist ihm noch der Kairos-Preis, ein mit 75.000 hoch dotierter Kulturpreis, von der Alfred Toepfer Stiftung verliehen worden. Zu Recht hebt die Begründung für den Preis seine Neugierde auf die Welt und die große Spiritualität in vielen seiner Choreografien hervor. Aber die war in früheren Stücken, die er oft mit flämischen Tänzern gemacht hat, dann doch feiner gewoben und überzeugender als gerade in dieser Arbeit mit den buddhistischen Mönchen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.