Taliban-Geiseln: Präsident Karsai im Dilemma
Lässt er Terroristen laufen, um die Geiseln freizubekommen, verliert er seine Glaubwürdigkeit. Bleibt er hart, sind weitere Tote zu befürchten.
DEHLI taz Die Taliban haben möglicherweise ihre Taktik im Feilschen um Menschenleben geändert. In seiner jüngsten Erklärung konterte Talibansprecher Jussuf Ahmadi das ergebnislose Verstreichen des letzten Ultimatums vom 1. August zur Mittagszeit nicht mit neuen Drohungen. Vielmehr sprach er laut AFP von der Möglichkeit, direkt mit südkoreanischen Unterhändlern über das Schicksal der verbleibenden 21 Geiseln zu verhandeln. Die direkte Beteiligung Südkoreas könne zu "einer neue Phase der Verhandlungen" führen. Er ging auch nicht auf die gezielte Provokation der Regierung in Kabul ein, die mit einer Militäraktion in der Provinz Ghazni gedroht hatten. Nach Interventionen Südkoreas und der USA bequemte sich die Regierung dazu, diese als eine Routineübung darzustellen, die nicht das unmittelbare Ziel der Geiselbefreiung verfolge, und als Zeitraum wurden die nächsten Wochen erwähnt. Dennoch war die Ankündigung klar ein Teil des Nervenkriegs, den die Regierung offensichtlich nicht nur dem Gegner überlassen will.
Die ungewöhnliche Zurückhaltung der Taliban gegenüber dieser Provokation sowie die Erwähnung direkter Verhandlungen mit koreanischen Emissären scheinen darauf hinzuweisen, dass die Taliban die wachsende Kluft zwischen der afghanischen und der südkoreanischen Regierung nutzen möchte. Auch die koreanische Agentur Yonhap erwähnte die Absicht der Regierung, sich von der Abhängigkeit Kabuls zu lösen. Dies macht deutlich, dass es der südkoreanischen Regierung in erster Linie um die Rettung der Geiseln geht und dass sie bereit wäre, dafür auch zu bezahlen. Ein weiteres Indiz ist die negative Reaktion Seouls auf die Ankündigung der Militärübungen in Ghazni und der Appell der Familien und politischer Parteien an die USA, auf Kabul einzuwirken.
Die Taliban sind noch nicht von ihrer ursprünglichen Forderung abgerückt, gegen die Freilassung der jungen Männer und Frauen acht ihrer gefangenen Gesinnungsgenossen auszutauschen. Doch Kabul ist bisher hart geblieben. Präsident Karsai fürchtet offensichtlich eine vollständige Erosion seiner Glaubwürdigkeit vor dem einheimischen Publikum, wenn er gegen die Befreiung von Ausländern Terroristen freilässt, während ein solcher Schritt gegenüber afghanischen Geiseln nie in Frage käme. Er müsste sich einmal mehr vorwerfen lassen, mit verschiedenen Ellen zu messen -und die eigenen Landsleute zu kurz kommen zu lassen.
Bisher hat Südkorea erfolglos versucht, Präsident Karsai zu Konzessionen zu bewegen. Beim Menschenhandel vom vergangenen März, als der italienische Journalist Daniele Marcogiacomo gegen fünf Topleute der Taliban eingetauscht wurde, hatte Premierminister Prodi neben Geldversprechen massives politisches Geschütz auffahren können. Er hatte gedroht, dass der Tod des Journalisten die öffentliche Meinung und das italienische Parlament provozieren könnte, einen Abzug der italienischen Truppen zu fordern. Ein ähnliches Pfand steht Südkorea nicht zur Verfügung, bilden doch die rund 200 Militärberater keine Kampftruppe. Auch der Flankenschutz der USA für Seoul wird trotz der engen Beziehungen mit Südkorea nicht ungeteilt gewährt werden, war es doch Washington gewesen, das sich im März gegen einen Gefangenentausch ausgesprochen hatte. Es fragt sich, ob die südkoreanischen Parlamentarier, die am Mittwoch nach Washington gereist sind, die Bush-Administration in ihrem Sinn zu beeinflussen vermögen.
Wie so oft in Afghanistan gibt es zweifellos auch die Möglichkeit, dass Geld schließlich über Ideologie triumphieren wird und dass sich die Taliban für die 21 Geiseln in bar statt in Form ihrer gefangenen Komplizen ausbezahlen lassen. Trotz der Beteuerungen aus westlichen Hauptstädten, einschließlich jener Deutschlands, dass man sich nicht erpressen lassen werde, ist es wahrscheinlich, dass bei geglückten Freilassungen in Irak und Afghanistan schließlich Geld geflossen ist, mit aktiver oder passiver Kenntnis der jeweiligen Regierungen. In Kabul wird gemunkelt, dass dies auch die Verhandlungen über die Freigabe des deutschen Ingenieurs verzögert. Dies war zumindest so lange der Fall gewesen, bis sich die Taliban, die an der Entführung zu Beginn nicht beteiligt waren, doch eingefädelt haben und die Geiselnehmer aus dem Paschtunen-Stamm unter Druck setzten. Das Video, das al-Dschasira ausgestrahlt hat, ist ein Beweis dafür. Darin "fleht" der 62-jährige Gefangene die Regierungen Deutschlands und der USA an, ihre Truppen abzuziehen. Die deutsche Regierung wies das Band als "Dokument der Einschüchterung" zurück.
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