piwik no script img

Archiv-Artikel

Furioser Grindcore-Retrofuturismus mit Insektenmaskerade: „The Locust“ am Mittwoch im Molotow Takt der Heuschrecke

Im wohl einflussreichsten großen alten Buch des christlichen Abendlands, der Bibel, haben sie vereinzelt spektakuläre Auftritte als Vorboten der Apokalypse: Heuschrecken. Ein durchaus naheliegendes Assoziationsfeld, begegnet man The Locust unvorbereitet. Voraussetzungsfrei gehört, ach was: erlebt, scheint die Musik des Quartetts aus San Diego in ihrer Raserei, Zickigkeit und Brachialität ein geeigneter Soundtrack zur landläufigen Vorstellung des (vorläufigen) Weltenendes. Auch das macht die Band zu einer der besten unter den Neo-Extrem-Punkrockern zwischen Blood Brothers und Dillinger Escape Plan.

Wenn die Kid-606-Kumpels ihr lärmendes Bühnenfeuerwerk zünden, stehen ein paar hagere Tätowierte in Insektenmaskerada und entlocken ihrem Standard-Rock-Instrumentarium zuzüglich retrofuturistisch piependem Analogsynthie einen furiosen Devo-Grind-Core mit mächtig Dampf. Wenn nötig, geht es dabei um Einiges druckvoller zu als bei den meisten ihrer Now!-Wave-Kollegen; zahlreiche ihrer Stücke sind kürzer, als es dauert, sie anzusagen: „Halfway To A Worthless Ideal Arrangement (An Interlude To A Discontinued Sarcastic Harmony Yea Whatever)“, „Twenty-three Lubed up Schizophrenics With Delusions of Grandeur“, „Late For A Double Date With A Pile Of Atoms In The Water Closet“ oder „The Half-eaten Sausage Would Like To See You In His Office“. Eine Band, die selten Zugaben spielen muss, schlicht, weil sich häufig genug kaum noch wer rührt im Saal.

Immerhin: Heutzutage müssen die beinahe ununterbrochen tourenden The Locust – auf sechs Wochen in den USA und weiteren sechs, die derzeit in Europa runtergerissen werden, folgt gleich die nächste Einladung nach Japan – nicht mehr befürchten, dass es zu teils handgreiflich ausgehenden Missverständnissen mit dem Publikum kommt. „Dieses Mal scheinen die Leute tatsächlich unsere Musik hören zu wollen“, so Schlagzeuger Gabriel Serbian gegenüber taz hamburg, „was sehr schön ist.“ Wo seid ihr gerade? Und wer kommt so zu den Konzerten? „Alle möglichen Leute: Normalo-Kids, Punkrock-Kids und solche, die Heavy Metal hören. Und manchmal sogar ein paar alte Jazz-Typen.“

Von früheren Überlandfahrten wird dagegen berichtet, The Locust seien von bodenständigen Punk- und Noiserock-Zuhörerschaften dermaßen häufig als „fags“ bezeichnet worden, dass sie beinahe schon glaubten, sie hießen so. „Manche Leute halten unsere Musik für einen Witz und uns für eine Witzband“, sagt Serbian. „Dabei ist es mir völlig ernst mit dem, was wir tun. Wir alle nehmen unsere Musik sehr ernst. Sie ist das, was für uns zählt und was wir machen wollen. Aber am besten ist es natürlich, daran auch noch Spaß zu haben ... eine humoristische Komponente.“

Auf Textebene sollen sogar schon Interpreten auf eine ambitionierte, real-kritische Dimension gestoßen sein – gut verpackt freilich in teils mehrstimmiges, hysterisches Gekreische und kryptische Silbenspielereien. Wäre im Sinne einer etwaigen Inhaltsvermittlung nicht vielleicht eine eingängigere Form hilfreich? „Nun ja“, lacht Serbian, „da ist was dran. Wir könnten versuchen, gerade heraus und superoffensichtlich vorzugehen. Aber es geht darum, die Sache interessant zu machen, nicht um Zugänglichkeit. Ich mag Musik, die die Grenzen verschiebt. Diese Verrücktheit. Das kann in jedem Genre sein, ob Country oder HipHop. Überall muss es so etwas geben.“

Durchaus passend dazu – und nicht zum ersten Mal als Anwärmer dabei – die Vorgruppe: „Gitarre-und-Bass-Wahnsinn ohne Pausen oder Wiederholungen“, hieß es an anderer Stelle über das Duo Orthrelm aus Washington, D.C. „Wie John Coltrane und Rashied Ali in ihrem Saxophon-Schlagzeug-Duett-Meilenstein ‚Interstellar Space‘ – nur mit einer durchgedrehten Metalgitarre anstelle von Coltrane.“ Weasel Walter, Kopf der Flying Luttenbachers und nicht nur deshalb ein ausgewiesener Experte für abseitiges Extremgeschredder und die Geschichte des lauten Geräusches, will in den harmonischen Fragmenten von Orthrelm sogar die kompositorische Handschrift von Bela Bartók aufblitzen gehört haben – wir sind gespannt.

ALEXANDER DIEHL

Mittwoch, 21 Uhr, Molotow