Tagung des Bayerischen Lehrerverbands: Kein Bildungsbegriff für Unterschicht
Kinder der Unterschicht glauben nicht daran, dass sie das Abitur schaffen können. Eine Tagung des Bayerischen LehrerInnenverbands sucht nach Antworten.
Das Mädchen wird interviewt. Es ist acht Jahre alt, seine Eltern haben keinen Job und keine Ausbildung. Als sie gefragt wird, wie es mit dem Gymnasium ist, sagt sie: "Das Abitur werde ich auf keinen Fall schaffen."
Als Inge Kloepfer die Szene schildert, werden sie wütend auf Schloss Elmau. Der Bayerische Lehrer- und Lehrerinnenverband hat seine alljährliche Expertenrunde vors Wettersteinmassiv eingeladen, um über den Bildungsbegriff zu sprechen. Huch, denkt man, das machen die Deutschen seit Wilhelm von Humboldt - folgenlos Bildungsbegriffe diskutieren. Aber diesmal ist es ein bisschen anders - und das liegt auch an der FAZ-Journalistin Inge Kloepfer.
Kloepfer nämlich äußert sich erfreulich deutlich. "Deutschland ist auf dem besten Wege, wieder eine Ständegesellschaft zu werden", sagt sie. Sogleich schnellen da ein paar schlaue Finger hoch, bitte mehr Differenzierung und präzise Definition. Nö, sagt Klopfer, "verwenden Sie den Begriff Stand, Klasse, Milieu, Prekariat oder Unterschicht, darüber kann man streiten - aber in der Essenz geht es darum: Die sozialen Chancen der Kinder dieser Gruppe sind stark gemindert."
Da dient die Achtjährige als Kronzeugin. Und sie ist nicht allein. Eine der schlimmsten empirischen Erkenntnisse der letzten Jahre ist immer noch die von Klaus Hurrelmann, der zeigen kann, dass deutsche Kinder schon im Alter von zehn Jahren nicht mehr an ihre Chance glauben. "Kinder aus der Unterschicht benennen nur zu 20 Prozent das Gymnasium oder das Abitur als Bildungsziel." Zum Vergleich: Sieben von zehn Kindern der oberen Mittelschicht glauben ans Abi, bei der Oberschicht sind es 81 Prozent. "Das ist untragbar", sagt Kloepfer. "Denn in einer Leistungsgesellschaft muss es auch die Chance des Erfolgs geben."
Die Journalistin Kloepfer hat ein Buch mit dem aufrührenden Titel "Aufstand der Unterschicht" geschrieben. Das Problem ist freilich, dass es gerade den nicht gibt. Höhere Hartz-IV-Sätze, mehr Kindergeld, Betreuungsgeld - klar, das wird alles eingesackt. Aber eine gerechtere Gesellschaft oder bessere Chancen und Schulen für ihre Kinder, das ist genau das, was diese Unterschicht nicht will - aber eben auch nicht bekommt.
Das kann man schön in Brandenburg beobachten. Das Bundesland war einst das gerechteste, gemessen an den Pisa-Ergebnissen. Aber seit 2000 findet dort ein regelrechter Absturz auf der Gerechtigkeitsskala statt. Und das liegt nicht etwa an den bösen Privatschulen (die in Brandenburg den deutschen Spitzenwert von 16 Prozent einnehmen) oder statusbewussten Bildungsbürgern. Nein, die Unterschicht hat ihre Lektion aus Pisa nicht gelernt, verraten die Bildungsforscher, die die Bewegungen in Brandenburg beobachten.
Der Anteil der Oberschichtkinder an den Gymnasien ist dort (zwischen 2000 und 2006) um satte 10 Prozentpunkte nach oben geschnellt. Bei den Hartz-IV-Empfängern hingegen ruht in Stille der See. Sie interessieren sich offenbar nicht dafür - das lässt sich aus den Daten ablesen -, auf welche Schule ihr Kind geht. Mal sehen, welche Schlüsse die neue rot-rote Regierung daraus zieht, die ihre Koalitionsverhandlungen beendete. Bislang weiß man nur, dass sie mehr Lehrer und Erzieher einstellen und ein Schülerbafög einführen will. Ob das genügt, die Unterschicht aufs Gymnasium zu holen?
Die Elmauer Sprecher sind sich einig. Der Einfluss der Familie auf den Erfolg ihrer Kinder ist überragend. Man könnte die Leute mit Forschungsbefunden dazu erschlagen. Aber der Transfer, den die Politik vornimmt, ist geradezu verrückt. Sie baut Schmalspur-Ganztagsschulen statt echter Bildungshäuser. "Ganztagsschulen sind Wellnessprogramm light", lästert der Präsident des Deutschen Jugendinstitutes Thomas Rauschenbach. "Man nimmt Familien Zeit - und füllt sie mit erweiterter Pausenaufsicht." Auch die neue Bundesregierung redet von Bildungsarmut, die es zu bekämpfen gelte. Aber anstatt Kindergärten und Schulen zu verbessern, erhöht die Regierung das Kindergeld.
Auf Schloss Elmau machen ein paar kopfschüttelnde Bemerkungen über das intellektuelle Niveau der Politik die Runde. Einer sagt, im Grunde müssen man heraus aus den Parteien und mit anderen Gruppen endlich eigene Bildungsgipfel veranstalten.
Den Schlüssel nimmt wiederum Inge Kloepfer in die Hand. "Wir brauchen einen schichtenübergreifenden Bildungsbegriff." Kloepfer meint damit den Anspruch, seinem Kind Chancen durch Bildung zu ermöglichen. Aber die Bemerkung zielt noch tiefer in den Urschleim des deutschen Bildungsbürgertums: Humboldt und andere Reformpädagogen haben einen superanspruchsvollen Begriff von ganzheitlicher Persönlichkeitsbildung. Aber wie kann es eigentlich sein, dass man diese umfassende Bildung den bis in die Million gehenden Sonder- und Hauptschülern konsequent vorenthält? Für die gilt der Begriff nicht. Denn sie sind ja lernbehindert oder nur "praktisch begabt" - eine Formel, die CDU-Kultusminister noch heute benutzen.
In Elmau sind sich daher alle einig. Es muss sich was tun. Man kann unmöglich auf die Kultusminister warten. "Wir brauchen ein Selbstermächtigungsprogramm der Schulen", sagt der Jenaer Professor Peter Fauser. "Wir brauchen andere Schulen."
Einige Teilnehmer begannen da schon zu zweifeln. Man könne es halt nicht ändern, zu komplex alles! Da prägte Klaus Wenzel, der Präsident des Bayerischen Lehrerverbandes, den Satz der Elmauer Gespräche: "Ich will mir in 10 Jahren von meinen Enkeln nicht sagen lassen: ,Ihr wusstet doch, wie ungerecht die Schule ist. Wieso habt ihr sie nicht verändert?' "
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin