: Tagebücher aus dem Regenwald
„Ob es möglich ist, nur von der Natur zu leben“, wollte Bruno Manser wissen. Deshalb zog er 1984 im Alter von 29 Jahren von Basel auf die viertgrößte Insel der Erde: Borneo. Dort, im malaysischen Bundesstaat Sarawak, teilte er sechs Jahre lang das Leben mit den Penan, die zu den letzten Urwaldvollnomaden dieser Erde zählen. Der „Schweizer Penan“ wird zu einem der Ihren. Er lernt die Spuren des Wildes lesen, mit Blasrohr und Giftpfeil jagen und genießbare Waldfrüchte sammeln – und er leistet mit den Penan Widerstand gegen die Zivilisation, deren Staatsmächte, Holzkonzerne und Pharmaunternehmen den Lebensraum der Ureinwohner sukzessive vernichten. Die Achtung vor dem Wunder der Schöpfung trieb Manser zu diesem radikalen Weg zum einfachen Leben.
Schon die Aufmachung seiner „Tagebücher aus dem Regenwald“ erinnert an den mächtigen Urwald mit seinen jahrtausendealten Bäumen und seinem unübertroffenen Reichtum an Tier- und Pflanzenarten. Mächtige 720 Seiten umfasst das vierbändige Werk. Gedruckt im DIN-A3-Format, bietet es genügend Raum für Mansers mit liebevoller Akribie gezeichnete und oft kolorierte Illustrationen: vom Bootsbau der Penan, vom roten Affen, vom Nashornvögel oder von exotischen Gewächsen wie der Durianfrucht. So entsteht beim Lesen das Gefühl, die Abenteuer Mansers hautnah mitzuerleben. Diese aufwändige Ausgabe der Tagebücher ist eine Hommage an den seit Mai 2000 Verschollenen.
Gleich bei seiner Ankunft auf Borneo atmet er zwar auf – „Endlich Dschungellandschaft, wie ich sie mir in meinen Träumen vorgestellt hatte!“ Weder „Transistorradio – Sonnenbrillen – Jeans – Kultur“. Doch schon während der Suche nach dem Penan-Volk, bei der er im Mulu-Nationalpark unwegsamstes Dschungelgebiet durchqueren muss, stellt er erschöpft fest: „Allein mit einer Karte 1:100.000 und Kompass und 25 Kilogramm Gepäck durch schier undurchdringliche Vegetation. Nach drei Tagen Buschmesserarbeit empfinde ich die aufgewendete Energie zu hoch. Vor allem wenn das Ziel nicht nahen will.“
Wenig später begegnet er schließlich doch den Penan. „Zum Gruß wird die Hand gehoben, doch keiner schaut mir in die Augen. Scheu wenden sie den Blick zur Seite, und kaum ein Händedruck ist zu spüren.“ Die Penan kennen praktisch keinen Krieg. Alles teilen sie miteinander. Da nicht einmal die Monde gezählt werden, wird auch nicht in Jahren gedacht. „Zeit ist ein unwichtiger Faktor“, erzählt Manser, „und keiner kann Auskunft über sein genaues Alter geben.“
Im Dschungel zählen halt andere Dinge. „Wo der weiße Mann das Buschmesser singen lässt, bückt sich der Eingeborene“, schwärmt Manser. „Er passt sich der Umgebung an, statt die Gegend sich anzupassen, wie wir es gewohnt sind. Neben Wild zählen Palmherzen und Früchte zu den Hauptnahrungsmitteln. Zucker, Salz und Gewürze gibt es nicht – und getrunken wird nie.
Allerdings leben nur noch wenige hundert der rund 12.000 Penan als Urwaldnomaden, die für ihr Leben nichts als einen intakten Urwald benötigen. Auch deshalb plant die Regierung, alle Penan in eine Siedlung zu verfrachten – inmitten einer der mehrere 1.000 Quadratkilometer großen Palmölplantagen, auf denen sie als billige Arbeitskräfte arbeiten sollen. Zugleich werden mit staatlicher Unterstützung weiterhin riesige Gebiete Primärwaldes abgeholzt und wird damit der Lebensraum von Menschen vernichtet, die schonend mit dem Urwald umgehen.
Bruno Manser wurde wegen seines Widerstands von der malaysischen Regierung zum Staatsfeind erklärt, und auf seinen Kopf wurden – wie im Tagebuch 13 zu lesen ist – immerhin 50.000 Dollar als Prämie ausgesetzt. Wohl zu Recht konstatiert er: „In der Welt der maßgeschneiderten Anzüge scheint Herz keinen Platz zu haben.“ Sein Verschwinden ist bis heute ungeklärt.
TORSTEN ENGELBRECHT
Bruno Manser: „Tagebücher aus dem Regenwald. 1984–1990“. Hg. v. Bruno-Manser-Fonds. Christoph Merian Verlag, Basel 2004, 4 Bände, 720 Seiten, 64 Euro