Tagebuch aus Georgien: Liebe in Zeiten der Revolution
Wie kann eine Beziehung halten, wenn es gerade um die Zukunft geht? In Tbilisi formiert sich die Opposition – und hofft auf gute Zeiten für alle.

J ede Revolution ist mit Lärm verbunden. Mit dem Grollen der Menge, dem Skandieren von Parolen, dem Schlagen gegen die Tore des Parlaments. Und dann – seltsame Stille, plötzlich ist alles ruhig. Revolutionen werden gemacht, um diese Ruhe zu bringen.
Aber in Tbilisi gibt es diese Ruhe nicht mehr. Seit einem Jahr nicht. Länger als 300 Tage schon lebt diese Stadt in Erwartung einer friedlichen Revolution. Ihre Parolen lauten „Nein zum russischen Regime“ und „Freiheit für politische Gefangene“. Diese Erwartung ist im Kalender festgehalten. Es ist der 4. Oktober.
Für den 4. Oktober 2025 sind in Georgien Kommunalwahlen geplant. Am selben Tag ist in Tbilisi eine Großdemonstration mit dem Ziel eines „friedlichen Sturzes der Regierung“ organisiert.
Und hier ist die Frage, die zu persönlich, fast egoistisch erscheint, wenn das Schicksal des Landes entschieden wird: Was tun, wenn man in solchen Tagen liebt?
Erst Proteste, dann gemeinsame Pläne
Liebe wird in Krisenzeiten zu einem gesellschaftlichen Phänomen. Sie wird von Protesten, staatlichem Druck und ungerechten Gerichtsverfahren beeinträchtigt. Vor allem, wenn man selbst Teil dieses Prozesses ist. Ich bin Journalistin, mein Freund Anwalt. Er verteidigt „Gewissensgefangene“. So werden in Georgien junge Menschen bezeichnet, die vom Regime wegen ihres Kampfes für eine europäische Zukunft des Landes verurteilt werden.
Am Anfang haben die Proteste meinen Geliebten und mich näher zusammengebracht: gemeinsame Einkäufe von Ausrüstung, Masken und Vorräten an Kochsalzlösung. Gemeinsam sind wir zu Protesten gegangen. Gemeinsam haben wir Prozesse durchlebt, die schwer zu ertragen sind, die aber nach den unausgesprochenen Gesetzen der Geschichte zwangsläufig zum Sieg führen.
In seinem Rucksack, in dem er Masken und Gasmasken aufbewahrte, trug er später auch einen Laptop mit den Akten seiner Mandanten mit sich. Gespräche über die Zukunft – über Reisen, das Zuhause, die Familie – wurden auf die Zeit nach der nächsten Gerichtsverhandlung, nach dem nächsten Interview, nach der nächsten Kundgebung verschoben.
Es fiel schwer, an persönliches Glück zu denken, wenn ein ungerechtes Urteil nach dem anderen unschuldige 20-jährige Jungs hinter Gitter brachte. Seine Arbeit, in der er Menschen vor dem Gefängnis bewahrte, wurde zu seinem eigenen Gefängnis. Und für mich zu einem Urteil. Darin liegt der Zynismus des Systems: Es raubt nicht nur die Freiheit, sondern auch die Gefühle.
Heiratsantrag im Gerichtssaal
Es zeigt sich aber auch, dass das Privatleben selbst unter den härtesten Bedingungen weitergeht: Der während der Protestaktionen festgenommene politische Gefangene Irakli Kerashvili heiratet seine Freundin direkt im Gefängnis. Ein anderer politischer Gefangener, Irakli Miminoishili, macht seiner Freundin während der Gerichtsverhandlung einen Heiratsantrag. Diese Beispiele zeigen: Revolutionäre Prüfungen können Beziehungen zerstören, aber manchmal stärken sie sie auch.
Zum Ende unserer langjährigen Beziehung sagt mein Geliebter, dass er mich in einer anderen Wirklichkeit treffen möchte, eine Realität, in der er mich glücklich machen kann. Und es ist schwer, nicht wütend zu sein auf ein Land, das uns diese Realität genommen hat.
Revolutionen zerstören alte Ordnungen, brechen gewohnte Formen auf. Sie zerstören auch persönliche Beziehungen. Tun sie das, damit an ihrer Stelle etwas Neues entstehen kann?
Ich weiß nicht, wie der 4. Oktober enden wird – mit einer Revolution oder mit Frustration. Aber das Warten darauf ist eine gute Bewährungsprobe nicht nur für die Institutionen der Macht, sondern auch für persönliche Beziehungen.
Früher oder später ebbt die Revolution ab. Politiker wechseln, Slogans verblassen. Was bleibt, ist nur die Hand, die du gehalten hast, als die Welt um dich herum zusammenbrach. Genauer gesagt, entstand eine neue und bessere Welt – mit genau der Realität, in der du glücklich sein kannst.
Khatia Khasaia ist Journalistin beim georgischen Dienst von Radio Liberty in Tbilisi. Zuvor arbeitete sie für die unabhängige Medienplattform Sova. Sie nahm am Workshop für Journalistinnen aus Osteuropa der taz Panter Stiftung teil.
Aus dem Russischen Tigran Petrosyan.
Finanziert wird das Projekt von der taz Panter Stiftung.
Gemeinsam für freie Presse
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Alle Artikel stellen wir frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade in diesen Zeiten müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass kritischer, unabhängiger Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert