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Tagebuch aus ArmenienWir wollen Arzach nicht vergessen

Über 100 Jahre nach dem Genozid an den Armeniern geht die Unterdrückung weiter. Ein Festival im Berliner Gorki-Theater will die Kultur am Leben erhalten.

Ein Foto von Nazik Armenakyan, aus der Serie „Red, Black White“ (2021) Foto: Nazik Armenakyan

N azik Armenakyan packt ihren Koffer. Neben persönlichen Gegenständen, Alben und Postkarten steckt die Fotografin duftenden Estragon und traditionelle Süßigkeiten in ihr Reisegepäck, etwa Walnüsse in eingekochtem Traubensaft.

Armenakyan nimmt all das mit nach Berlin. Sie will es einem guten armenischen Freund schenken, der dort lebt. Er soll den Geschmack und den Geruch der Heimat nicht vergessen. Armenakyan, die auf dokumentarische Fotos spezialisiert ist, weiß, dass Erinnerung wichtig ist, dass sie manchmal das Einzige ist, was einen Menschen, dem alles genommen wurde, weiterleben lässt.

Am Donnerstag war der 24. April. Für die meisten Menschen ein Tag wie jeder andere, aber nicht für uns Armenier:innen. Am 24. April 1915, also vor 110 Jahren, begann im Osmanischen Reich der Genozid am armenischen Volk. An diesem Tag wurden etwa 300 armenische Intellektuelle ermordet.

Aber der Völkermord geschah nicht nur an diesem Tag. Er wurde systematisch geplant und durchgeführt. Insgesamt wurden 1,5 Millionen Ar­me­nie­r:in­nen deportiert, massakriert, getötet.

Die Vertreibung nach dem Genozid

Mittlerweile scheint es, als ob 110 Jahre genügen könnten, um Frieden zu schließen und um zu überleben. Vielleicht. Vielleicht wäre das so, wenn sich die Geschichte nicht wiederholte. Doch sie wiederholt sich. Seit mehr als 30 Jahren versucht Aserbaidschan, Arzach von der armenischen Bevölkerung zu säubern. Wir nennen unsere Heimat Arzach, was andere Bergkarabach nennen. Im Jahr 2023 konnte Aserbaidschan dieses Ziel erreichen. Da wurde die gesamte armenische Bevölkerung Arzachs, 120.000 Menschen, gewaltsam vertrieben. Sie wurden zu Flüchtlingen und Obdachlosen.

Die meisten konnten kaum etwas mitnehmen. Einige eine Handvoll Erde, die sie an ihre Heimat denken lässt. Oder ein Foto, das sie erinnert. Geblieben sind Sehnsucht, Schmerz und Trauer. Die geflohenen Menschen bemühen sich, nun in Armenien zu leben. Es ist ein Versuch, der allerdings nicht gelingt. Denn der Staat, der die Sicherheit dieser Menschen garantieren sollte, hat sie im Stich gelassen und lässt sie mit Krieg, Armut und Dunkelheit allein – wie vor 110 Jahren. An jedem Tag wird in Arzach die Erinnerung an die armenische Präsenz in diesem Land ausgelöscht.

Allerdings verschwindet die Erinnerung nicht so ganz. In diesem Jahr ist Berlin der Ort der Erinnerung – rund 3.800 Kilometer von der Heimat entfernt. Das Maxim Gorki Theater bringt über 150 Künst­le­r:in­nen zusammen. Im Rahmen des Festivals „100 + 10 – Armenian Allegories“ wird vom 24. April bis zum 31. Mai an die Armenier:innen, ihre Geschichte und ihr Erbe erinnert – mit Hilfe von Fotografie, Film, Theaterstücke und Literatur.

Nazik Armenakyan gehört zu den renommiertesten Künst­le­rin­nen des Landes. Sie dokumentiert die Geschichte und Gegenwart ihres Heimatlands im Südkaukasus. Sie sagt: „Bei diesem Festival geht es um die aufstrebende künstlerische Sprache der Kultur in Armenien und darum, wie wichtig es ist, dass wir die Welt aus unserem immer enger werdenden Zuhause mit weit geöffneten Augen betrachten.“

Sona Martirosyan ist Journalistin und lebt in Jerewan (Armenien). Sie war Teilnehmerin eines Osteuropa-Workshops der taz Panter Stiftung.

Aus dem Armenischen von Tigran Petrosyan.

Finanziert wird das Projekt von der taz Panter Stiftung.

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