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Demo zum Tag gegen Gewalt an Flinta*Nur noch 13 Femizide, dann ist Weihnachten

Tausende demonstrieren in Berlin gegen geschlechtsspezifische Gewalt. Die Zahl der gewaltbetroffenen Flinta* hat einen neuen Rekordwert erreicht.

Rathausturm Neukölln: leuchtet anlässlich des Internationalen Tages gegen Gewalt gegen Flinta* Foto: Sven Kaeuler/dpa
Lilly Schröder

Aus Berlin

Lilly Schröder

Vergewaltigt, erschossen, verbrannt, verprügelt, erstochen, vergiftet. In großen roten Lettern prangen diese Worte auf der „Wall of Shame“: einem rund fünfzig Meter langen weißen Teppich, der am Dienstagabend die Straße vor dem Justizministerium in Berlin-Mitte bedeckt. Darauf stehen Namen von Tätern. Das Ziel: Ihnen die Last der Scham zurückgeben.

„Die Scham muss die Seite wechseln!“, ruft eine Aktivistin der Gruppe Handmaids Riot, die hinter der Aktion steckt. Zur Demo anlässlich des Internationalen Tages gegen Gewalt gegen Flinta* hatte das Bündnis „Keine* Mehr!“ aufgerufen. Andere De­mo­teil­neh­me­r*in­nen halten schwarze Plakate mit einem weißen Kreuz in die Höhe. Auf einem weiteren Plakat steht zynisch: „Nur noch 13 Femizide und dann ist Weihnachten.“

Jedes Jahr fordern Flinta* (Frauen, Lesben, inter*, nicht-binäre, trans*, und agender* Personen) am 25. November: Keine* mehr. Und jedes Jahr sind es wieder mehr – mehr Flinta*, die Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt werden. 2024 wurden laut Senatsinnenverwaltung rund 43.000 Flinta* in Berlin Opfer von Gewalt. 2020 waren es noch 31.833. In Deutschland wurden letztes Jahr laut Bundeskriminalamt 308 Flinta* Opfer eines Femizids. Das Dunkelfeld dürfte um ein Vielfaches höher sein.

Um dagegen zu demonstrieren, versammelten sich vielerorts Menschen. Auf dem Pariser Platz protestierte ab dem Morgen die Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes. Am Nachmittag rief ein breites zivilgesellschaftliches Bündnis unter dem Motto „Kürzt ihr uns zu Tode?! – Lasst uns gewaltfrei leben!“ am Brandenburger Tor auf. Nach Angaben der Ver­an­stal­te­r*in­nen beteiligten sich rund 1.000 Menschen.

Intersektionale queerfeministische Perspektiven

Weitere De­mons­tran­t*in­nen zogen am Nachmittag vom Schlesischen Tor zum Hohenstaufenplatz. Die Ver­an­stal­te­r*in­nen sprachen von bis zu 9.000 Teilnehmer*innen. Aufgerufen hatten palästina-solidarische Gruppen unter dem Motto: „Nicht kapitulieren – die Flamme am Lodern halten“. Die ursprüngliche Demoroute über die Sonnenallee war nach Angaben der Veranstalter von der Polizei kurzfristig verboten worden. Bei der Demo kam es zu Auseinandersetzungen mit der Polizei.

Vor dem Justizministerium verläuft die Kundgebung ruhig.„Sexualisierte Gewalt kennt kein Geschlecht – sie hat System: ein patriarchales, rassistisches, kapitalistisches, cis-hetero-sexistisches“, sagt eine Bündnis-Sprecherin. Deshalb brauche es intersektionale queerfeministische Perspektiven, die die Marginalisierungen in ihren Verschränkungen sichtbar machen.

Die Zahlen sprechen eine klare Sprache: Von den 281 zwischen Oktober 2024 und Oktober 2025 getöteten Trans*Personen, waren die meisten Trans*­frau­en – insbesondere Schwarze, migrantisierte und Sexarbeitende. Umso größer ist die Kritik aus der Community, dass ihre Perspektiven an diesem Tag häufig kaum Beachtung finden. „Wir gehören nicht an den Rand dieses Tages“, sagt Penelope Alva Frank, Mitbegründerin von Queermany. „Wir gehören in das Zentrum.“

Die Demonstrierenden fordern den schnellen Ausbau von Frauenhausplätzen und Beratungsstellen, verpflichtende Schulungen zum Thema für Polizei, Richterschaft und Staatsanwaltschaft sowie verpflichtende Täterarbeit. Zudem brauche es Datenaustausch unter Behörden, Fallkonferenzen, Gefährdungsanalysen und in Hochrisikofällen die Anordnung der elektronischen Fußfessel.

Doch dazu braucht es finanzielle Ressourcen – an denen es im Haushalt mangelt. Der schwarz-rote Senat plante im Gleichstellungsetat 2025/26 2,574 Millionen Euro einzusparen. Damit wäre jedes Projekt, das Flinta* vor geschlechtsspezifischer Gewalt schützt, von Kürzungen bedroht. Schon jetzt ist der Bereich massiv unterfinanziert: Laut Senatssozialverwaltung existieren 579 Schutzplätze, notwendig wären nach den Vorgaben der Istanbul-Konvention, zu der sich Deutschland 2018 verpflichtete, nahezu doppelt so viele.

Haushaltskürzungen sollen zurückgenommen werden

Am Samstag kündigten die Fraktionsvorsitzenden der Berliner CDU und SPD jedoch an, alle Haushaltskürzungen in diesem Bereich zurücknehmen zu wollen. Zudem sollen weitere zehn Millionen Euro aus dem Sondervermögen des Bundes in den Bereich fließen, weitere 16 Millionen sind demnach für den Ausbau von Frauenhausplätzen vorgesehen. Details sind bislang nicht bekannt. Verabschiedet wird der Haushalt durch das Abgeordnetenhaus am 18. Dezember.

Der Entschluss wird im Gewaltschutzbereich begrüßt. Die Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen (BIG) warnt jedoch: „Die Ankündigung kam (…) leider zur spät, um die betriebsbedingten Kündigungen zurückzunehmen, die viele Einrichtungen bereits aussprechen mussten.“ Sie fordert schnelle Klarheit für Träger, damit die Strukturen nicht weiter Schaden nehmen.

Auch vor dem Justizministerium richtete sich deutliche Kritik an staatliche Stellen: „Viele von uns schweigen, weil unser Rechtssystem immer noch die Verantwortung bei den Opfern sucht“, kritisiert die Aktivistin Nika Irani. „Wir wollen Gesetze, die Betroffene schützen.“ Und weiter: „Schweigen ist keine Zustimmung. Nur ja heißt ja!“

Damit verweist Irani auf die Forderung, dass sexuelle Handlungen im Strafrecht nur dann als einvernehmlich gelten sollen, wenn beide Personen aktiv zustimmen. Frankreich hat eine solche Regelung kürzlich eingeführt. SPD-Justizministerin Stefanie Hubig erklärte im taz-Interview, dass sie sich ein „Ja heißt Ja“ bei Jugendlichen wegen ihrer besonderen Schutzbedürftigkeit vorstellen könne. Alles weitere müsse diskutiert werden.

Es ist kurz nach 19 Uhr, als sich der durchgefrorene Demozug in Bewegung setzt. In Gedanken an alle, die ihre Stimme nicht mehr nutzen können, skandieren die Demonstrant*innen: „Man tötet nicht aus Liebe – stoppt Femizide!“ Gegen 21 Uhr erreicht die Demo ohne Zwischenfälle den Oranienplatz in Kreuzberg.

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