Tag der Menschen mit Behinderung: Die sich auf die Straße traut

In einer sibirischen Stadt sitzen Menschen mit Behinderung zu Hause fest. Soja Lasarewna hat sich ihren motorbetriebenen Rollstuhl erkämpft.

Mit ihrem Rollstuhl fährt Soja Lasarewna, wenn nötig, auch gerne mal auf der Straße Bild: Bernhard Clasen

ANGARSK taz | Wie immer bleibt Soja Lasarewna vor der Tür der Apotheke stehen und wartet, bis ihr Enkel Erdeni wieder herauskommt. Als das Pärchen, das vorübergeht, die 72-Jährige wahrnimmt, angelt der Mann unwillkürlich in der Manteltasche nach einigen Rubelscheinen.

„Lass das!“, zischt seine Begleiterin. „Sieh dir doch mal an, wie die angezogen ist“. – „Ach so“, kommt es dem Mann über die Lippen. Dann ziehen sie weiter, ohne die Frau noch eines Blickes zu würdigen. „Es ist doch immer dasselbe! Sieht man mich irgendwo nur für ein paar Minuten warten, denken die Leute gleich, ich bin eine Bettlerin.“ Soja Lasarewna kocht vor Wut.

Die rüstige Rentnerin mit der energischen Stimme, die lange Jahre in der Logistikabteilung eines Moskauer Ministeriums gearbeitet hat, kann es nicht fassen. Dabei erweckt die gut gekleidete und dezent geschminkte Frau eher den Eindruck einer pensionierten Managerin – wäre da nicht ihr Rollstuhl, mit dem sie nun schon fast 31 Jahre lebt.

„Bei uns gibt es keine Behinderten!“, ruft Soja, zurück in ihrer Erdgeschosswohnung, und spielt auf Leonid Breschnew an, den damaligen Chef der Kommunistischen Partei, der mit diesen Worten den Aufbau einer Rollstuhlproduktion abgelehnt hatte. 1983 wäre Soja Lasarewna bei einem Autounfall fast ums Leben gekommen.

Die Ärzte hatten sie schon aufgegeben. „Es war vor allem mein starker Wille, der mich am Leben gehalten hat“, erzählt Lasarewna und lacht. „Ich wollte überleben, und ich habe überlebt.“ Seitdem ist sie querschnittsgelähmt. Ihrem Gast aus Deutschland bietet sie Gemüse und Obst an. „Das ist alles aus meinem eigenen Garten“, fügt sie stolz hinzu. „Er ernährt mich und Erdeni. Gurken, Kartoffeln, Kraut, Kürbisse, Tomaten, Stachelbeeren brauchen wir nicht mehr einzukaufen, sie kommen direkt aus unserem Garten.“

Erhöht angelegte Beete

Der Tag: Die UNO hat den 3. Dezember zum Internationalen Tag der Menschen mit Behinderung ausgerufen.

Die Konvention: Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen von 2006 regelt die gleichberechtigte Teilhabe bzw. Teilnahme von Menschen mit Behinderung am gesellschaftlichen Leben. Russland hat das Abkommen 2008 unterzeichnet und am 25. September 2012 ratifiziert.Die Konvention ist bisher von 128 Staaten und der EU angenommen worden.

Die Lage in Russland: Etwa 13 Millionen Behinderte leben heute nach offiziellen Angaben in Russland, 9,2 Prozent der Bevölkerung. Experten gehen jedoch von einer höheren Dunkelziffer aus. Außerdem steigt auch die Zahl der offiziell registrierten Invaliden rapide. Galten 1970 nur 346.000Menschenals behindert, waren es 2005 1,8 Millionen. Derzeit werden jedes Jahr eine Million Menschenneuals Invaliden eingestuft. Mit schärferen Vorschriften für die Anerkennung von InvaliditätversuchendieBehördendiesen Trend zu verlangsamen. Größte Interessenvertretung der Behinderten ist die „Allrussische Gesellschaft der Invaliden“ mit zwei Millionen Mitgliedern.

Direkt vor dem Fenster liegt ihr penibel aufgeräumter Garten. Die Beete wurden erhöht angelegt, sodass man auf sie vom Rollstuhl aus bestellen, das Gemüse gießen und auch ernten kann. Die Wege zwischen den Beeten wurden von ihrem Enkel Erdeni so verbreitert, dass der Rollstuhl bequem hindurchpasst. „Ich mache im Garten fast alles selbst“, sagt Soja. „Aber dass ich ihn überhaupt habe, verdanke ich meinem Enkel. Erdeni ist bei mir groß geworden, nun hilft er mir mit meinem Leben, im Garten und im Haushalt.“

An der Innenseite der Haustür der gläubigen Buddhistin prangt ein großes Bildnis vom Dalai Lama. Auch aus ihrem Glauben schöpft die Burjatin Lasarewna Kraft. Das benachbarte Burjatien, eine russische Teilrepublik am Ostufer des Baikalsees, ist die Heimat des russischen Buddhismus. Einmal im Jahr pilgert Soja, Lasarewna, in Begleitung ihres Enkels Erdeni, dorthin zu den heiligen Stätten des Buddhismus, um Energie zu tanken.

Die Fahrstühle sind zu eng

Und Soja Lasarewna braucht ihre ganze Kraft. Die Trottoirs von Angarsk, einer Stadt mit 250.000 Einwohnern in Westsibirien, sind schlecht asphaltiert und für Rollstühle nicht befahrbar. Löcher und hohe Bordsteine machen das Fahren mit einem Rollstuhl unmöglich. Doch Soja Lasarewna lässt sich nicht aus der Fassung bringen. Stoisch nimmt sie, wenn sie für Besorgungen in der Stadt unterwegs ist, mit ihrem elektrisch betriebenen Rollstuhl eine ganze Fahrspur ein. Was den verdutzten Autofahrern immer wieder hektische Bremsmanöver beschert.

Diese Entgeisterung kommt nicht von ungefähr. Soja Lasarewna ist die einzige Person mit Behinderung in der Viertelmillionenstadt, die mit ihrem Rollstuhl auf Straßen fährt. „Alle anderen trauen sich kaum aus der Wohnung“, berichtet sie. Verständnis werde den Angarsker Rollstuhlfahrern selten entgegengebracht. Sicher, seit Leonid Breschnews Zeiten habe sich schon etwas getan, räumt Soja ein. Doch die meisten Angebote seien bestenfalls dem Image der Verantwortlichen dienlich.

Im Dezember letzten Jahres hatten die städtischen Behörden anlässlich der UNO-Dekade zur Inklusion stolz den modernisierten Kulturpalast der Öffentlichkeit präsentiert, erzählt Soja Lasarewna. „Die Besucher staunten nicht schlecht, als sie die eigens für Rollstuhlfahrer neu gebaute Rampe besichtigen durften.“

An den Rollstuhlfahrern vorbeigeplant

Aber schnell wurde aus Staunen Fassungslosigkeit, als der erste Rollstuhlfahrer versuchte, den Weg in den Kulturpalast zu nehmen. Die Rampe war zu steil, die Kurven waren zu eng. In seiner Not forderte der blamierte Bürgermeister kurzfristig Soldaten der nächsten Einheit an, die die Behinderten auf Händen in den Saal trugen. Anschließend wurden die Rollstühle in den Kulturpalast gehievt. „Hätte man uns Behinderte doch mal in die Planungen einbezogen! Dann wäre alles etwas weniger peinlich gewesen“, sagt Soja Lasarewna und lacht.

Auch sonst hätten die Behörden nicht viel übrig für die Belange von Menschen mit Behinderung. Hätten Behinderte früher alle sieben Jahre ein neues Auto erhalten, sei diese Maßnahme seit Putins erster Amtszeit abgeschafft. Nun gebe es stattdessen zusätzliches Geld auf die Rente, monatlich 101 Rubel – umgerechnet 2,30 Euro. Nicht viel für die ehemalige Staatsangestellte, die mit einer Rente von 210 Euro über die Runden kommen muss.

In Russland, so klärt Lasarewna auf, gebe es zwei Klassen von Invaliden. Wer infolge eines Arbeitsunfalls behindert sei, erhalte zwei Renten, eine vom Staat und eine vom Arbeitgeber. Da sie außerhalb der Arbeitszeit verunglückt ist, erhält sie nur die einfache Rente. Ihr stehen auch pro Jahr nur 21 Tage Kuraufenthalt zu, während sich Behinderte, die aufgrund eines Arbeitsunfalls im Rollstuhl leben, 42 Tage in einem Sanatorium erholen können.

Die Juristin kann sich helfen

Soja will weiter für ihre Rechte kämpfen. Als ein Gutachter dagegen votierte, dass der Staat ihren elektrisch angetriebenen Rollstuhl finanziert, da „die Funktionalität der oberen Extremitäten in keinster Weise eingeschränkt ist“, ließ Lasarewna nicht locker. Inzwischen hat sie ihren von einem Motor gesteuerten Rollstuhl. Als Abonnentin juristischer Fachzeitschriften weiß sie, dass sie ein Anrecht auf die kostenlose Reparatur ihres Rollstuhls hat. Als die städtische Behörde nicht zahlen wollte, prozessierte sie durch mehrere Instanzen, bis schließlich das Moskauer Ministerium die Bezahlung der Reparatur anordnete.

Seit Jahren ist Soja Lasarewna Mitglied in der „Angarsker Union der Rollstuhlfahrer“. Doch bedingt durch die Behinderungen der Mitglieder findet das Vereinsleben fast nur per Telefon oder Skype statt. „Ich habe Glück, kann in einer Erdgeschosswohnung leben. Mein Enkel hat mir für den Eingang eine rollstuhltaugliche Rampe gebaut.“ Doch die anderen Mitglieder des Vereins kommen praktisch nie vor die Haustür. „Wer nicht im Erdgeschoss lebt, muss den ganzen Tag in der Wohnung bleiben.“ Auch die Aufzüge sind nutzlos. „Die Rollstühle sind zu breit für unsere engen Fahrstühle.“ Dreißig Mitglieder sind in der Angarsker Union der Rollstuhlfahrer eingetragen. Wie viele Menschen mit Körperbehinderung wirklich in der Stadt leben, lasse sich aus dieser Zahl jedoch nicht erschließen, sagt Lasarewna.

Ein Vorbildcharakter

Hilfe erfahren Menschen mit Behinderung in Angarsk kaum, mitunter kommen Gläubige einer umliegenden Kirche oder junge Mitglieder eines patriotischen Vereins vorbei, helfen Soldaten, wenn sich ein Vorgesetzter hat überreden lassen, diese zu den Behinderten abzuordnen.

Angarsk, die verschlafene Provinzstadt unweit des Baikalsees, hat keine Sehenswürdigkeiten zu bieten. In Deutschland kennt man sie – wenn überhaupt – wegen ihrer Urananreicherungsanlage, die auch Atommüll aus Gronau beherbergt. Die in der Stadt angesiedelte Chemieindustrie führt bei vielen Kindern zu Allergien und Atemwegserkrankungen. Es ist kaum zu erwarten, dass man sich ausgerechnet hier die Umsetzung der UNO-Konvention zur Inklusion von Menschen mit Behinderung auf die Fahne schreiben wird.

Doch Soja Lasarewna will nicht aufgeben. Und ihr Lebensmut steckt andere an. Viele folgen ihrem Beispiel, lassen sich von Bürokraten nicht mehr länger abwimmeln, beschweren sich bei deren Vorgesetzten. Und wer Schwierigkeiten hat, ein Schreiben zu formulieren, kann sich an die juristisch versierte Soja Lasarewena wenden. Für den bevorstehenden Winter hält sie für die trägen Behörden der Stadt eine Warnung parat: „Wenn Sie dieses Jahr wieder nicht den Schnee vor meiner Haustür räumen, werde ich bis nach Moskau schreiben, um der Regierung von diesem Skandal zu berichten!“

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