Tag 1 der verschäften Corona-Regeln: Wo geht’s denn hier zum Lockdown?

Das letzte Mal ausgereizt – und darüber hinaus. Ein Bummel durch eine Einkaufsstraße zeigt, wie viele Türen da noch offen stehen

Das Bild zeigt zwei Polizisten, die beobachten, wie eine Bretterbude, offenbar für Glühwein, abtransportiert wird.

Wie hier am Breitscheidplatz sind die Glühweinbuden dicht. Trotzdem ist oft noch viel Betrieb Foto: Jochen Eckel/imago

Lockdown? Welcher Lockdown? Wer sich am ersten Tag der neuen Coronaregeln durch Berlin bewegte, konnte sich diese Frage am Mittwoch zeitweise durchaus stellen. Gut, der Glühweinstand, den es mit der Menschentraube davor so nie hätte geben dürfen, verschwand tatsächlich. Aber sonst sorgten die zahlreichen Ausnahmen vom Schließgebot weiter für viel Bewegung auf den Bürgersteigen. Aus dem Straßenbild verschwunden sind vorweg die Schüler, die nicht mehr Busse und Haltestellen bevölkern (siehe S. 21).

Exemplarisch dafür soll hier die Haupteinkaufsstraße in Zehlendorf sein, der Teltower Damm nördlich der S-Bahn-Station. Der Gemüseladen im Durchgang unter der Bahn: ­geöffnet, genauso wie die drei Imbisse gleich daneben. Gut, nachvollziehbar: essen muss der Mensch ja – auch wenn die Leute davor besser alle mit Maske (an)stehen würden. Und das große Bekleidungsgeschäft daneben ist tatsächlich genauso dicht wie der Juwelier und der Telefonladen ein paar Meter weiter.

Aber dann? Auf den nächsten paar hundert Metern nebeneinander und durchweg geöffnet: ein Schreibwarenladen, drei Apotheken, zwei Drogeriemärkte, zwei Buchläden, zwei Brillenladen, eine Bäckerei, ein Coffeeshop, ein Delikatessenladen, zwei Sanitätshäuser, Sparkasse und Bank, ein Hörgerätegeschäft, noch ein Bäcker und noch zwei Imbisse. Geschlossen sind nur: ein kleines Bekleidungsgeschäft, ein Schuhladen und einer für Deko-Artikel. Anders bloß am Straßenende, wo ein Kaufhaus samt zwei kleinen Läden daneben dicht ist.

Unterm Strich sind das auf insgesamt 430 Metern 9 geschlossene, aber 25 geöffnete Geschäfte.

Da stellt sich beispielsweise die Frage: Ja, eine Brille kann kaputtgehen, ja, das Hörgerät gleichfalls – aber warum reicht dafür nicht ein Notdienst für Reparaturen, so wie es ihn auch in normalen Zeiten etwa bei Apotheken gibt? Wieso auch weiter Verkauf, der Leute zusätzlich aus dem Haus und auf die Straße bringen kann?

Nein, sagt Senatssprecherin Melanie Reinsch auf taz-Anfrage, da soll es keine Überlegungen des Senats gegeben haben, die bundesweit geltenden Vorgaben in Richtung von Notdiensten zu ändern. Und etwa nur Supermärkte zuzulassen, nicht aber exquisitere Lebensmittelgeschäfte oder bloße Süßigkeitenläden wäre aus ihrer Sicht vor Gericht gescheitert.

Unklar bleibt, warum Buchläden aktuell und trotz der Kontaktgefahren als lebenswichtige Versorgung eingestuft sind, wenn mutmaßlich im Regal zu Hause noch der eine oder andere ungelesene Band steht. Wie sagte doch Regierungschef Michael Müller (SPD) jüngst? Es gebe wirklich keinen Grund, sich noch am 28. Dezember einen Pullover zu kaufen. Gleiches könnte für Bücher gelten.

Geöffnet sind aber nicht nur die Buchläden, bei denen Kultursenator Klaus Lederer (Linkspartei) die Ausnahme damit rechtfertigte, sie seien „geistige Tankstellen“. Auch die wenig mehr als 200 Meter von der Zehlendorfer Einkaufsstraße entfernte öffentliche Bibliothek hat, verkürzt auf 12 bis 16 statt 19 Uhr, geöffnet. Und das passiert nicht etwa im Notbetrieb wie im Frühsommer, mit reinem Abholen vorbestellter Bücher, sondern weiter mit der Möglichkeit, zwischen den Regalen zu stöbern. Das allerdings ist offenbar noch nicht durchgedrungen: Anders als am Montag, als nach Bekanntwerden des Lockdown-Beschlusses mittags gut 20 bis 30 Menschen draußen auf die Öffnung warteten, sind es dieses Mal um kurz vor 12 Uhr nur eine Handvoll.

Auf dem Bürgersteig vor den Läden sieht es auch nicht gerade nach höchster Alarmstufe aus. Geschätzt jeder und jede Fünfte ist ohne Maske unterwegs, wobei Männer dabei in der Mehrheit sind. Theoretisch müssten hier alle eine Maske tragen – der Teltower Damm gehört definitiv zu den, wie Regierungschef Müller es schon vor drei Wochen allgemein ausdrückte, „belebteren Straßen“, für die der Senat Maskenpflicht vorgegeben hat.

Da Spieleläden nicht unter „lebenswichtig“ fallen, hatten sich dort viele noch auf den letzten Drücker versorgt. Am späten Dienstagnachmittag warteten beispielsweise in der Eberswalder Straße in Prenzlauer Berg vor dem Laden mit den Brettspielen bestimmt 20 Menschen geduldig, den Blick aufs Smartphone oder die Mütze des Vordermanns gerichtet, bis sie an der Reihe waren. Nicht mehr alle dürften es in der letzten Stunde geschafft haben, das letzte Geschenk analog zu shoppen.

Im benachbarten Puzzleladen ging es ruhiger zu, nach nur 10 Minuten war man drin. Es sei doch auch schön, sagte eine Wartende, wie Corona irgendwie alles entschleunige, jetzt könne man mal Schaufenster studieren und hetze nicht von einem Laden in den nächsten. Ihre mitwartende Freundin sah das anders: „Entschleunigung? Ich hab’s eilig, da ändert auch Corona nichts dran.“

Nach Geschäftsschluss gab es am Dienstagabend schließlich noch die letzte Chance für dieses Jahr, nochmal legal mit einem frisch gekauften Becher Glühwein um die Häuser zu ziehen. Rund um den Helmholtzplatz in Prenzlauer Berg standen in der Nähe der zahlreichen Ausschankstellen – die meisten der vielen Kneipen und Restaurants hier halten sich mit einem Take-away-Schalter über Wasser – ein, öfter zwei, bisweilen auch mehrere Menschen zusammen, tranken, rauchten, plauderten. Oft, aber nicht nur über Corona.

An manchen Ecken wurde es ein bisschen eng, meist verteilten sich die Leute aber recht breitflächig. In den Mülleimern stapelten sich die Pappbecher. Ein Wirt hier hatte schon gar keine mehr; er griff entschuldigend auf die umweltfreundlichen Recup-Becher zurück, für die ein Euro Pfand erhoben wird und die stadtweit zurückgegeben werden können.

Kurz vor zehn Uhr war auch sein Glühweinsamowar leer getrunken. Am Tag danach dann Tee ohne Schuss, was laut der seit Mittwoch geltenden Coronaverordnung des Senats noch erlaubt wäre? „Nein“, sagte er, „das lohnt sich wirklich nicht.“

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