Tabori im Nebel

■ „Jubiläum“ im Bremerhavener Stadttheater: ein pompöses Mißverständnis

Ein beeindruckend pompöses Mißverständnis ist auf der Bühne des Bremerhavener Stadttheaters zu besichtigen: Zur Eröffnung der neuen Spielzeit im Schauspiel inszeniert Manfred Repp im Großen Haus George Taboris bittere Auseinandersetzung mit den untergründig und offen wuchernden faschistoiden Stimmungen in Deutschland. „Jubiläum“ — eine Farce — hatte er vor 10 Jahren zum 50. Jahrestag der Machtergreifung geschrieben. Das Stück hat nicht an Aktualität verloren, und es einem Publikum zuzumuten, das in den letzten Jahren vor allem mit angenehmer Unterhaltung zerstreut wurde, ist eine Provokation. Der Mut sei dem Ensemble und seinem Regisseur nicht abgesprochen. Auch nicht der Ernst, mit dem sie sich der Konfrontation zwischen Jürgen, einem jungen Neo-Nazi und seinen ehemaligen wie gegenwärtigen Opfern annehmen. Aber Repp will das Publikum sanft stimmen. Es soll mit einer gewaltigen Kulisse im Stil des 19. Jahrhunderts getäuscht werden.

Verrecke mit ck, mein Junge!

Ein herbstlich zugerichteter jüdischer Pappmache-Friedhof — mit hoher Mauer, verschlossenem Tor, viel Laub auf den wuchtigen Grabplatten — schafft eine dunkle Gartenlauben-Stimmung. So theatralisch wie das Bild (Bühne: Wolf Gross) agieren die aus den Gräbern auferstehenden Figuren: Arnold, der jüdische Musiker, Lotte, seine Frau, und Jürgen, der über die Mauer springt und ein Grab mit Parolen beschmiert. „Verrecke mit ck, mein Junge“, verbessert ihn Arnold väterlich. Mit makabren Dialogen, mit schneidendem Witz sticht Tabori tief in ein deutsch-nationales Nest aus Ängsten und Aggressionen, in dem nicht nur der Antisemitismus, sondern der Haß auf jegliche Minderheiten — Schwule, Behinderte, Fremde — prächtig gedeiht. Aber dieses „schwierige Theater, das einfach zu machen ist“ (Tabori) wird in Bremerhaven mit unterhaltender, dekorativer Künstlichkeit zugedeckt. Da wird die Bühne vernebelt, der Neo-Nazi uriniert mit der Wasserspritze auf den Kopf von Mitzi, am Ende wirft er — zum Hitler-Gruß — aus dem Parkett eine hübsch explodierende Rauchbombe. Die Musik ist eine klassisch-moderne Zitaten-Collage.

Die Nebelstrategie hinderte eine beträchtliche Anzahl empörter Damen und Herren keineswegs daran, das Theater vorzeitig zu verlassen: Spätestens als die Tunte Helmut (Dirk Böhling) von den Schmerzen nach der operativen Beschneidung berichtete — sie wollte ein Zeichen der Solidarität setzen — , waren einige so angefaßt, daß sie flüchteten. Damit verpaßten sie eine Szene, die so präzise und - um ein schwaches Wort zu benutzen — so ergreifend ist, wie sie auf der Bremerhavener Bühne in den letzten Jahren kaum zu sehen war. Mitzi (Harriet Kracht) berichte Arnold (Dieter Kaiser) von der Ermordung der Kinder vom Bullenhuser Damm am 20. April 1944 in Hamburg. Harriet Kracht spricht und spielt die spastisch gelähmte junge Frau in einer eindrucksvollen Studie mit allen körperlichen Zeichen der Krankheit. Sie wechselt den Ton, sie verwandelt sich in die Kinder und die an dem Mord beteiligten Täter, Männer und Frauen, die vor Gericht ihre Unschuld beteuern. In diesen Minuten zieht eine Stille ins Theater ein, die alles Theatralische vergessen läßt und auf der Bühne herstellt, was Tabori fordert: „Das Schwierige, das so einfach zu machen ist.“ Hans Happel

Nächste Aufführungen 23.9., 26.9. (19.30 Uhr), 28.9., 8.10., 15.10. jeweils 20 Uhr