T.C. Boyle über Natur und Nihilismus: „Ja, ich bin ein Sadist“
Der US-amerikanische Schriftsteller T.C. Boyle erklärt, weshalb sich das vermeintliche Paradies schnell als Privathölle entpuppen kann.
taz: Mister Boyle, träumen Sie davon, auf Ihrer eigenen Insel zu leben?
T..C. Boyle: Ich denke, jeder hat diesen Traum. Weil jeder Mensch ohne Regeln und Vorschriften leben möchte oder – noch besser – diese Regeln selbst festlegen will.
Die Insel San Miguel, auf die Sie in Ihrem neuen Roman drei Frauen schicken, ist die unwirtlichste der Kanalinseln vor der südkalifornischen Küste, ein Eiland fernab jeder Zivilisation, über das ein kalter Wind pfeift.
Ja, ich gebe es zu, ich bin ein Sadist. In „San Miguel“ denke ich darüber nach, wie es ist, außerhalb der Gesellschaft zu leben. Welche Freuden dieser Zustand bereithält, aber auch was für Probleme entstehen.
Ist die Botschaft Ihres Buches: Vorsicht mit Träumen, denn das vermeintliche Paradies, die eigene Insel kann sich leicht als Privathölle entpuppen?
Es ist nicht meine Aufgabe, die Botschaft meiner Bücher zu verkünden. Aber ich muss zugeben, dass mir diese Interpretation gefällt. Ich erzähle in „San Miguel“ ja zwei Geschichten, die tatsächlich passiert sind: Marantha wird mit ihrer Tochter Edith auf die Insel verschleppt von ihrem Mann, einem im Bürgerkrieg verletzten Exsoldaten, und leidet dort fürchterlich, sie hasst die Natur.
Warum Anna Sievers' Kinderwunsch in Spanien erfüllt werden kann und nicht in Deutschland – und warum ein Arzt deshalb vor Gericht steht, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 12./13. Oktober 2013 . Darin außerdem: Die Schriftstellerin Sibylle Berg über das Bett als Arbeitsplatz. Und: Leinenzwang für Hunde? Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
50 Jahre später wird Elise auf die Insel verschleppt von ihrem Mann, einem im Ersten Weltkrieg verletzten Exsoldaten, blüht aber dort auf. Sie war eine alte Jungfer, eine Bibliothekarin aus New York, aber sie nimmt ihr neues Leben voller Begeisterung an und liebt die Natur. Als ich bei den Recherchen zu „Wenn das Schlachten vorbei ist“ …
Ihrem letzten Roman, der ebenfalls auf diesen Inseln spielt …
In „San Miguel“, seinem 14. Roman, literarisiert Tom Coraghessan Boyle - wie schon oft - das Leben realer Personen. Die Geschichte dreier Frauen, die auf dem unwirtlichen Eiland San Miguel vor Kalifornien das Paradies suchen, stützt sich auf Tagebuchaufzeichnungen und eine Autobiografie. Wieder rekapituliert Boyle sein ewiges Thema, den Kampf des Menschen gegen die Natur draußen und das Tier in sich selbst, in der Form eines historischen Romans, diesmal allerdings vollkommen frei von Ironie.
T. C. Boyle: „San Miguel“. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. Carl Hanser Verlag, München 2013, 448 S., 22,90 Euro
Als ich auf diese beiden Geschichten mit ihren Parallelen gestoßen bin, wusste ich, dass ich daraus einen Roman machen musste. Denn es geht ja um viel mehr, um den Pioniergeist, der die amerikanische Psyche immer noch bestimmt. Es geht auch – wie oft bei mir – um ökologische Probleme und die Überbevölkerung.
Wie wichtig ist es, den Ort zu kennen, an dem eine Geschichte spielt?
Das hängt von der Geschichte ab. Man kann sich auch alles ausdenken. Aber bei den beiden Romanen, die auf den Kanalinseln spielen, war es sehr wichtig, da mal rauszufahren, um möglichst viel über die Ökologie der Inseln zu erfahren. Auf Santa Cruz und Anacapa war ich mehrere Male, ich habe auch dort gezeltet mit den Biologen, die dort forschen.
Auf der anderen Seite: Als ich „Dr. Sex“ schrieb, bin ich nach Bloomington, zur University of Indiana, gefahren, weil Alfred Kinsey dort gelebt und gelehrt hat. Ich war eine Woche dort, hab mir die Bibliothek angesehen, hab mir angesehen, wo er gelebt hat, hab mit ein paar Leuten gesprochen – und das war’s.
Für „Drop City“ bin ich einen Monat nach Alaska gefahren, aber vor allem, weil ich immer schon mal nach Alaska wollte. Das allermeiste, was ich da erlebt oder herausgefunden habe, habe ich dann nicht im Buch verwendet, aber es ist mir schon wichtig, ein Gefühl für den Ort zu entwickeln. Aber ich bin im Sommer nach Alaska gefahren, nicht im Winter.
Hatten Sie noch nie Probleme mit Anwälten, wenn Sie mal wieder einen Menschen, der tatsächlich gelebt hat, zum Romanstoff gemacht haben?
Ich weiß nicht, wie die deutschen Gesetze sind, aber in den USA ist die Gesetzeslage so: Über Tote oder öffentliche Figuren darf man schreiben, was man will. Ich könnte einen Roman schreiben, in dem Barack Obama Schafe vergewaltigt. Auch ein Film wie „Abraham Lincoln Vampire Slayer“ ist gedeckt von der freien Meinungsäußerung.
Ein immer wiederkehrendes Thema in Ihren Büchern, von Ihrem Romanerstling „Wassermusik“ bis zu „San Miguel“ jetzt, ist der Kampf des Menschen gegen die Natur.
Mich interessiert, wie der Mensch beschaffen ist und warum er ein Bewusstsein besitzt. Denn obwohl Gott offensichtlich nur eine Erfindung des Menschen ist, um mit dem Nihilismus da draußen klarzukommen, machen wir uns trotzdem gerne vor, wir wären keine Tiere.
Wir sitzen hier in einem Hotelzimmer, sind ordentlich angezogen und quatschen geschwollenes Zeug in ein elektronisches Gerät – aber wir bleiben trotzdem Tiere, die den Gesetzen der Natur unterworfen sind. Diese Dualität des „menschlichen Tiers“, wie uns Dr. Kinsey zu nennen pflegte, fasziniert mich. Deshalb interessiert mich auch Ökologie so sehr, weil der Mensch nun mal Teil davon ist. Wäre ich nicht Schriftsteller geworden, dann wohl Biologe.
In Ihren Büchern ist die Natur zumindest bedrohlich, manchmal sogar böse.
Nein, finde ich gar nicht. Natur ist indifferent. Aber natürlich grenzt es an ein Wunder, dass wir zwei alte Säcke hier sitzen und noch am Leben sind. Es gibt Unfälle, Krankheiten und Verrückte, die Menschen auf der Straße erschießen. Ich verstehe ja, dass man Gott erfunden hat, weil sonst Depressionen um sich greifen würden.
Aber ich kann an keinen Gott glauben, alles was mir bleibt, ist Darwin und das gleichgültige Universum. Der einzige Sinn des Lebens, der meiner Meinung nach Sinn ergibt, ist, sich fortzupflanzen.
Sind Sie ein desillusionierter Umweltschützer?
Ja, so ist es wohl. Teil der Natur sind eben auch die bösartigen Götter des Universums, die uns nur deshalb als wunderschöne Affen erschaffen haben, um uns am Ende umzubringen. Ich hätte gern noch ein paar Illusionen, aber wenn man die entsprechende Literatur studiert, sieht man: Es gibt keine Hoffnung mehr für die Spezies Mensch.
Wir leben auf einem begrenzt großen Planeten mit einer unbegrenzt wachsenden Bevölkerung und steuern auf eine Katastrophe zu. Das ist, muss ich zugeben, schon ein wenig beängstigend. Ich hoffe nur, dass ich tot bin, bevor die Katastrophe eintritt.
Zurück zu Ihrem Buch: In „San Miguel“ benutzen Sie eine Technik, die Sie gern verwenden, den Perspektivwechsel. Wussten Sie von vornherein, dass Sie die Geschichte nur aus der Sicht von Frauen erzählen wollten?
Da ich ein Tagebuch und eine Autobiografie, die von Frauen geschrieben wurden, als Grundlage verwendet habe, war es wohl logisch, nur die Sicht von Frauen einzunehmen. Als ich die ersten Kapitel schrieb, ließ ich trotzdem noch einen Mann zu Wort kommen.
Aber nach vier, fünf Kapiteln habe ich gemerkt, dass das nicht nötig war, sondern die Geschichte besser funktioniert, wenn sie nur aus Frauenperspektive erzählt wird. Und zwar, weil diese Frauen zwar nicht unbedingt die Opfer von Männern sind, aber alle gezwungen sind, sich in Strukturen zurechtzufinden, die von Männern bestimmt werden.
Das war, bevor der Feminismus erfunden wurde, traditionell so, und wie sich Frauen in diesen Strukturen zurechtfinden, aber auch Männer, die in den Einflussbereich eines Gurus gelangen, das hat mich schon immer interessiert, auch in „Drop City“, „Dr. Sex“ oder „Willkommen in Wellville“.
Es scheint so, als würden Frauen mit der Zeit in ihren Büchern eine immer stärkere Rolle einnehmen. Wie kommt’s?
Ja, ich bekenne mich schuldig. Als ich angefangen habe zu schreiben, waren Frauen meist nur Nebenfiguren. Damals pflegte meine Frau zu sagen: Deine Frauenfiguren sind flach. Ich konterte dann immer: Ja, aber meine Männerfiguren auch.
Tatsächlich war ich anfangs nicht wirklich an Charakteren interessiert, sondern mehr an Storydesign, Sprache und Ideen. Das hat sich erst im Laufe der Zeit verändert. Das war eine Herausforderung, die ich mir mit „San Miguel“ bewusst gestellt habe: Kann ich einen historischen Roman schreiben aus der Sicht von Frauen und ohne ironischen Unterton?
Eine andere Herausforderung, der Sie sich zu stellen scheinen, ist die, unsympathische Figuren zu schaffen, mit denen sich der Leser trotzdem identifiziert.
Es gibt ja kein Gesetz, dass Romanhelden sympathisch sein müssen. Aber ich glaube, es ist genau umgekehrt. Ich würde gern mal einen Roman schreiben mit einem ungebrochenen, guten Helden, der nur Gutes tut. Aber ich tue mich anscheinend leichter, über Menschen zu schreiben, die Fehler haben.
Ich muss zugeben, dass ich nicht wirklich weiß, wie das kommt. Ich schreibe keine Pläne, was in meinen Büchern passieren soll. Ich bin kein Architekt, der einen Plan zeichnet, wie das Haus aussehen soll. Ich baue zwar in gewisser Weise auch ein Haus, aber ich fange mit der Haustür an und gehe dann durch, um zu sehen, was ich dahinter finde.
Wie sieht die Haustür aus, durch die Sie als nächste gehen?
Das Haus ist schon fertig. Ich habe das Manuskript eben zu meinem Agenten geschickt. Es heißt „The Harder They Come“ und ist mein Gegengift zu „San Miguel“. Es spielt im Norden von Kalifornien, ist zeitgenössisch und handelt ausnahmsweise mal nicht von Frauen, sondern von amerikanischer, sehr männlicher Gewalt. Die Hauptfigur ist ein um sich schießender Amokläufer.
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