Syrisches Dialogtreffen in Berlin: Die Suche nach einem Ausweg
Einflussreiche Syrer haben sich in Berlin getroffen. Auch Vertreter aus Regimegebieten ließ das Assad-Regime nach Deutschland ausreisen.
An diesem Dienstagvormittag im Hinterzimmer eines Berliner Hotels geht es um die syrische Identität. Draußen ziehen Touristen ihre Rollkoffer hinter sich her, ein Kellner stellt seine Cafétische auf den Bürgersteig. Drinnen im holzvertäfelten Besprechungsraum sind die Kaffeetassen schon geleert. „Wollen wir unsere verschiedenen Identitäten verschleiern oder multiple Identitäten zulassen, etwa im Religionsunterricht?“, fragt eine Teilnehmerin. „Auf keinen Fall verschleiern“, sagt ein anderer. Diversität, das müsse der Ausgangspunkt sein.
13 Jahre nach Ausbruch des Syrienkriegs haben längst andere Konflikte das Land aus den globalen Schlagzeilen verdrängt. Doch eine Lösung steht weiter aus. Das Regime von Baschar al-Assad hat nur zwei Drittel des Landes von Aufständischen zurückerobert; zwischen den unterschiedlichen Herrschaftsbereichen verschieben sich die Grenzen schon seit Jahren nicht mehr. Was aber die Versammelten in Berlin beschäftigt: Auch gesellschaftlich ist Syrien ein Flickenteppich und Trümmerhaufen zugleich. Der Krieg, die jahrelange Gewalt und Hetze wirken nach, in den Köpfen, in den Herzen.
Vor mehr als zehn Jahren, nachdem Assad zunächst friedliche Proteste brutal niederschlagen ließ und einen landesweiten Aufstand provozierte, trafen sich – ebenfalls in Berlin – einflussreiche Oppositionelle, um mit Unterstützung der Bundesregierung Grundlagen für einen politischen Übergang zu legen. Pläne für den „Tag danach“ wollten sie schmieden, für die Zeit nach dem erwarteten Sturz des Diktators. Dass der „Tag danach“ noch kommen wird, davon scheint in dem Berliner Besprechungszimmer in der ersten Juniwoche 2024 keiner mehr auszugehen.
Die Gruppe, die nun in Berlin zusammengekommen ist, ist schwer zu fassen. Auffällig viele der Versammelten stammen aus Tartus, also aus dem vom Regime kontrollierten Gebiet, und sind für das Treffen nicht etwa aus dem Exil angereist, sondern aus Syrien selbst. Die Stadt an der Mittelmeerküste ist eine Hochburg der Alawiten, jener Bevölkerungsgruppe, zu der auch Assad gehört. Wenn man den komplexen Syrienkonflikt herunterbrechen müsste, dann wären die Alawiten als gesellschaftliche Basis des Regimes der Antagonist der syrischen Opposition, zu der besonders viele Sunniten zählen.
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Doch genau diese konfessionellen, ethnischen und ideologischen Gräben möchte die Gruppe überwinden. Sie nennt sich „Rat der syrischen Charta“. Die Original-Charta mit ihren elf Prinzipien liegt auf dem Tisch. Zu den Unterzeichnern gehören neben Alawiten und Sunniten auch Kurden, Christen und Turkmenen. Die Oppositionelle Basma Kodmani, die letztes Jahr in Paris verstorben ist, hat unterzeichnet, wie auch der Islamgelehrte und Ex-Parlamentsabgeordnete Mohammed Habash, der 2012 in die Emirate auswanderte.
Nach Berlin gekommen ist dieses Mal die Richterin Iman Shahoud, aus ihrem schwedischen Exil. Auch Mitglieder altehrwürdiger Großfamilien sind vertreten „Familien, nicht Stämme!“, betont ein Anwesender. Gemeinsam meinen sie, die syrische Gesellschaft zu repräsentieren, auch wenn hier natürlich keiner irgendwie gewählt worden ist.
Willkürliche Verhaftungen und systematische Folter
„Diese Initiative bringt alle Teile der Gesellschaft zusammen, die im In- und Ausland Einfluss haben“, sagt ein Teilnehmer mit tiefer Stimme. Wie alle im Raum hat er sich zwar namentlich vorgestellt, mit ihrem Klarnamen in der Zeitung stehen wollen aber nur wenige. Was die Versammelten vereint, ist die Überzeugung, dass es in Syrien so nicht weitergehen darf. Dass es möglich ist, etwas zu verändern.
Der erste Artikel ihrer Charta, die 2017 unterzeichnet wurde, lautet ganz einfach: „Einheit der syrischen Territorien“. Das klingt wenig kontrovers, ist aber bedeutsam. Derzeit haben im Nordwesten Syriens islamistische Rebellen und protürkische Milizen das Sagen, während sich kurdisch dominierte Kräfte im Nordosten einen von Damaskus unabhängigen Quasi-Staat aufgebaut haben. Sie streben zwar offiziell nicht nach kompletter Unabhängigkeit, aber das Autonomiegebiet werden sie sich freiwillig nicht wieder nehmen lassen.
Am meisten Sprengstoff birgt Artikel 5: „Rechenschaftspflicht“, heißt es da, „ist der Schlüssel zum Wiederaufbau des Landes. Dies darf nicht mit Rache oder kollektiven Anschuldigungen verwechselt werden. Rechenschaftspflicht ist individuell. Kein Mitglied einer Gemeinschaft darf für die Untaten eines Angehörigen oder Mitglieds seiner Gemeinschaft verurteilt werden.“ Wer die Forderung nach Rechenschaft weiterdenkt, landet schnell bei hohen Vertretern des Assad-Regimes, das mit willkürlichen Verhaftungen, systematischer Folter und zahlreichen Kriegsverbrechen seit Jahren die eigene Bevölkerung terrorisiert.
In der ersten Sitzung im Jahr 2017 hätten Exil-Oppositionelle und Alawiten aus Syrien getrennt gesessen, erinnert sich der deutsch-syrische Jurist Naseef Naeem, der die Gespräche damals moderierte und auch jetzt wieder am Kopfende des Tisches Platz genommen hat. Aber damit sei es schon nach der Raucherpause vorbei gewesen.
Im Visier der Regierung
„Das Regime“, sagt Naeem, „kommt nicht vom Mars, sondern aus der Mitte der Gesellschaft. Ich habe das Gefühl, dass das vielen in Europa nicht bewusst ist.“ Aber unabhängig von der Frage, ob Assad an der Macht bleibt, müsse man sich fragen, wie die miserable Lage in Syrien zu managen ist. Den Zweck des „Rats der syrischen Charta“ sieht er darin, sowohl den Syrern als auch der internationalen Gemeinschaft vor Augen zu führen, dass Verständigung auf gesellschaftlicher Ebene durchaus möglich ist.
Die Bundesregierung erklärte auf taz-Anfrage, ihr sei die Initiative bekannt und sie unterstütze „die Zielsetzung, eine innersyrische Plattform zu bieten, die langfristig einen Beitrag zu einer politischen Lösung leisten kann.“ Man sei aber nicht involviert.
„Wenn irgendwann all die bewaffneten Gruppen abgezogen sind, werden die Syrer mit all ihrem Leid auf sich allein gestellt sein“, sagt Faissal Mulhem aus Tartus. Darauf müsse man sich vorbereiten. Mulhem ist einer der wenigen aus Syrien Angereisten, die ihren Klarnamen freigeben. Dem syrischen Regime, sagt er, sei die Initiative ohnehin bekannt.
Dass die Verantwortlichen in Damaskus wissen, was vor sich geht, zeigte sich vergangenes Jahr. Im Herbst musste ein Treffen fast ausschließlich mit Exil-Syrern stattfinden. Die Teilnehmer aus Syrien wurden an der Ausreise gehindert und mussten sich beim Geheimdienst melden. Dieses Mal lief dagegen alles glatt. „Sie lassen uns machen“, sagt der Mann mit der tiefen Stimme selbstbewusst, weil man auch in den Reihen des Regimes wisse, dass es so nicht weitergehen kann –„weil es einen Exitplan aus der Krise braucht.“
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