Syrien-Tagebuch Folge 11:
Zwischen Prüfung und Revolution
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Syrien-Tagebuch Folge 11: Zwischen Prüfung und Revolution
Jedes Jahr steht auf dem Blatt mit der Aufgabe die gleiche Frage. Doch wie antworten, wenn sich in Syrien viel geändert hat?
Diese Schule in Jarmuk wurde laut Aktivisten von Faßbomben des Regimes zerstört.
Bild:
reuters
Diese Geschichte wurde von dem Studenten Osama verfasst. Seit 2014 steht „Adopt a Revolution“ in Kontakt mit AktivistInnen im Damaszener Vorort Douma, die Geschichten aus ihrem Alltag berichten.
Zögerlich lief ich den Gang zum Prüfungssaal hinunter und betrat gedankenverloren den Raum. Ich suchte meinen Namen, setzte mich auf den mir zugewiesenen Platz und wartete auf das Prüfungsblatt. Ich wusste bereits, was auf darauf stehen würde – es war jedes Jahr die gleiche Frage. Ich kannte sie aus der Grundschule, aus der Mittelschule und der Oberschule. Eine unheimliche Stille breitete sich um mich herum aus.
Ich schaute mich um: Viele blickten genauso schockiert wie ich auf das Blatt. Einige fingen ohne großes Überlegen an zu antworten. Ich aber musste an meine verletzte und trostlose Heimatstadt denken, die ich verlassen hatte. Ich träumte davon, wie früher durch ihre Straßen und Gassen zu spazieren. Was machte ich bloß hier? Dann fielen mir die Worte meines Vaters sein: „Mein Sohn, lass die Revolution erst mal gut sein und bewaffne dich lieber mit Wissen. Deine Zeit ist noch nicht gekommen!“ Er sagte auch: „Sei nicht traurig. Du wirst beim Wiederaufbau helfen, sobald das Regime gestürzt ist.“
Alltag in Deir ez-Zor, Syrien
Bild 1 von 17: Syrien, Deir-Ezzor, 2013. Eine Rakete schlägt ein, der Fotograph Hayyan
al Youssef rennt zum vollständig zerstörten Nachbarhaus. Nur die Küche
blieb unbeschädigt. In dieser sitzen die drei Mädchen. Das Foto entstand
fünf Minuten nach der Explosion.
Bild:
Hayyan al Youssef
Bild 2 von 17: Die Altstadt von Deir-Ezzor wird vom Assad-Regime mit Raketen
bombardiert. Al Youssef ist 34 Jahre alt, hier geboren und hat die
Kämpfer der Freien Syrischen Armee (FAS) von 2012-2014 bei ihrem Kampf
gegen das Regime mit der Kamera begleitet.
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Hayyan al Youssef
Bild 3 von 17: Deir-ez-Zor liegt am Euphrat. Die Brücken, die Stadtteile an den beiden
Ufern verbinden, sind inzwischen zerstört.
Bild:
Hayyan al Youssef
Bild 4 von 17: Jungssport am Euphrat. Auch al Youssef hat an dieser Stelle oft mit
seinen Freunden gebadet. Vor sechs Monaten kam er nach einer langen
Odyssee in Deutschland an.
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Hayyan al Youssef
Bild 5 von 17: Der kleine Junge ist zehn Jahre alt und arbeitet in der
Rebellen-Bäckerei. Nur noch wenige Kinder können in die Schule gehen. Al
Youssef findet: „Das Mehl bestäubt sein Gesicht mit kleinen Sternen.“
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Hayyan al Youssef
Bild 6 von 17: Die Stromversorgung ist zusammengebrochen und es gibt seit Jahren keine
Heizung mehr. Die Winter sind sehr hart.
Bild:
Hayyan al Youssef
Bild 7 von 17: Auch die Wasserversorgung funktioniert nicht mehr. Also stehen viele,
auch Kinder, für Wasserkanister an und schleppen sie nach Hause.
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Hayyan al Youssef
Bild 8 von 17: Abu Danial ist einer der berühmtesten Fotografen von Deir-Ezzor. Gerade
wurde sein Haus niedergebrannt. Al-Youssef schreibt: „In unseren Herzen
ist noch immer Raum für Liebe.“
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Hayyan al Youssef
Bild 9 von 17: Innenansichten aus dem Panzer. Al-Youssef hat hier oft mit den Kameraden
Tee getrunken.
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Hayyan al Youssef
Bild 10 von 17: Die Flügel des Schmetterlings sind beschädigt. Trotzdem fliegt er noch.
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Hayyan al Youssef
Bild 11 von 17: Kämpfer auf Rebellenseite versorgen die Front mit Wasser,
Nahrungsmitteln und Waffen. Die Brücken sind zerstört, also bleiben nur
diese Motorboote für den heimlichen Transport.
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Hayyan al Youssef
Bild 12 von 17: Gerade haben die beiden Kämpfer diesen Graben ausgehoben und sind sehr
müde. Schlafend oder rauchend vertreiben sie sich die Zeit bis zur
Nacht. Dann gehen die Kämpfe weiter.
Bild:
Hayyan al Youssef
Bild 13 von 17: Da die Brücken zerstört sind, treiben die Bauern die Kühe jetzt durch
den Euphrat auf Weideplätze, die nicht beschossen werden.
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Hayyan al Youssef
Bild 14 von 17: Kämpfer der Freien Syrischen Armee werden in diesem Moment von einem
Snyper angegriffen. Deir-Ezzor, August 2013.
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Hayyan al Youssef
Bild 15 von 17: Kriegsalltag: Eine typischer Schützengraben, um Kämpfer der FSA vor
feindlichen Snypern zu schützen.
Bild:
Hayyan al Youssef
Bild 16 von 17: Das Haus der Frau wurde zusammengebombt, sie sucht mit ihrem Enkel
Zuflucht am Bahnhof. Ihr Sohn wurde vor wenigen Tagen von Snypern des
Assad-Regimes erschossen.
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Hayyan al Youssef
Bild 17 von 17: Einer der gefährlichsten Orte in Deir-Ezzor, hier verläuft die Front.
Die Kämpfer des Assad-Regimes sind 50 Meter entfernt. Die Gräben
schützen vor Snypern. Gekämpft wird vor allem nachts.
Bild:
Hayyan al Youssef
Die Zeit verging und ich hatte immer noch kein einziges Wort geschrieben. Ich wurde nervös und auf einmal konnte ich antworten. Die Tinte mischte sich mit meinen Tränen. Ich schrieb und schrieb. In meinem Inneren hatte ich die Antwort offenbar längst ausformuliert.
In der Titelzeile des Papiers stand: „Das Ministerium für Hochschulbildung, Fakultät für Bauingenieurwesen, Nationalkunde“, und in der linken Ecke: „Name“. Schnell schrieb ich dort „Osama“ hin und legte das Blatt auf den Tisch, als die Aufseher unaufmerksam waren. Dann verließ ich umgehend den Saal. Ich hatte die Frage beantwortet. Sie lautete: „Berichten Sie über die Leistungen des Präsidenten, Dr. Baschar al-Assad.“
Übersetzung aus dem Arabischen: Adopt a Revolution
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