Symptome auch ohne Alkohol: Der nüchterne Kater
Lange Zeit spaßte der Autor, auch ohne Alkohol einen Hangover nach dem Feiern zu haben. Bis er feststellte, dass mehr hinter dem Witz steckt.
Am Anfang war die Idee eines „nüchternen“ Katers nicht mehr als ein Witz. Seit meinem 16. Lebensjahr trinke ich keinen Alkohol mehr und nehme auch sonst keine Drogen. Wenn ich mit Freund*innen ausgehe und feiere, bleibe ich die ganze Nacht über nüchtern. Selbst an Silvester habe ich nicht mit Sekt auf das neue Jahr angestoßen, sondern mir ganz erwachsen Kinderchampagner aus einer mit Batman verzierten Flasche eingeschenkt.
Trotzdem kommt es immer wieder vor, dass ich nach dem Feiern mit Symptomen aufwache, die normalerweise mit einem Kater in Verbindung gebracht werden: brummende Kopfschmerzen. trockener Mund und Wasserfälle aus Schweiß.
Aus Jux fing ich irgendwann an, meinen trinkenden Freund*innen morgens zu schreiben, dass ich auch gerade mit einem Hangover im Bett läge. Erwartungsgemäß hatte der Witz nur mäßig Erfolg. „Du hast gut reden!“, hämmerten meine Freund*innen genervt in ihre Handys hinein, während ihnen die Köpfe unter dem Gewicht ihrer nächtlichen Exzesse zermalmt wurden.
Ein bisschen Recht haben sie ja schon. Da ich noch nie in meinem Leben mit einem richtigen Hangover kämpfen musste, habe ich schon von vornherein gar nicht den nötigen Vergleichsmaßstab. Lange Zeit glaubte ich deswegen, dass dieser Zustand nur eine persönliche Anomalie sei, und alle anderen Abstinenzler*innen es ordentlich krachen lassen konnten, ohne sich am Tag drauf ächzend im Bett rumwälzen zu müssen. So darbte der nüchterne Kater als reiner Insiderscherz vor sich hin und gab nur hin und wieder ein trauriges Miauen von sich.
Um den alkoholseligen Jahreswechsel herum sollte mich dann jedoch ein Beitrag in der Instagram-Story meines Freundes Luca eines Besseren belehren. „Sind nüchterne Hangovers ein Ding?“ prangte da über einem Selfie von ihm, das er im Bett aufgenommen hatte und auf dem er ausgesprochen fertig aussah. Von einem Moment auf den anderen brachen meine Zweifel über den nüchternen Kater weg. Ich bin doch nicht der Einzige, durchfuhr es mich aufgeregt.
Vom Insiderwitz zum geläufigen Phänomen
Auf meine Nachfrage hin verriet Luca mir, dass er bis auf das ein oder andere Glas Rotwein abends schon seit drei bis vier Jahren nichts mehr trinke. Nach alkoholfreien Partynächten wache er aber immer wieder mit „Kopfschmerzen und Müdigkeit“ auf. Bislang habe er noch nie wirklich mit jemandem darüber geredet – bis er das Foto in seine Instagram-Story gepackt und ihn plötzlich mehrere Leute angeschrieben hätten, denen das Gleiche widerfahren sei.
Ich fragte selbst auf Instagram, Twitter, Reddit und Facebook, ob andere das Problem kennen. Dabei kristallisierte sich endgültig die Erkenntnis heraus, dass es sich beim nüchternen Kater um ein Phänomen handelt, von dem erstaunlich viele Abstinenzler*innen betroffen sind. Oder zumindest mehr als ich gedacht hätte.
Beispielsweise schrieb mir Emma* dass sie sich nach dem Weggehen schon mehrere Male so gefühlt habe, als ob sie krank werden würde – obwohl sie schon seit vier bis fünf Jahren keinen Alkohol mehr konsumiere, nachdem ihr mal jemand etwas ins Getränk gemischt hatte. Genauso wie ich, begann sie damit, diesen Zustand spaßeshalber als „sober hangover“ zu bezeichnen.
Bei Sophie wiederum fangen die Symptome sogar schon am Abend selbst an. „Meistens wache ich dann in den frühen Morgenstunden auf, weil mir übel und schwindelig ist“, so die Studentin, „es fühlt sich genau so an wie mit Alkohol. Nachdem ich die Augen geöffnet habe, habe ich sehr viel Durst und bin träge.“ Auch einigen Nutzer*innen, die mir auf Twitter geantwortet hatten, beschert das alkoholfreie Vergnügen regelmäßig leichte Übelkeit und sogar Migränen.
Für Cyrille, mit dem ich mich über Instagram ausgetauscht hatte, gesellt sich zur körperlichen Erschöpfung auch noch eine existenzielle hinzu. Nach dem Weggehen überfalle ihn immer eine Art „Entfremdung“, bei der er sich nicht mehr als er selbst fühle, so der Student. Am ehesten ließe sich das ihm zufolge – der unter anderem mit Trinken aufgehört hat, weil sein Vater an einer Leberzirrhose starb – mit dem philosophischen Ekel vergleichen, den der französische Philosoph Jean-Paul Sartre in seinem gleichnamigen Roman beschreibt.
Alkoholeinläufe und Schlafbetrunkenheit
Natürlich ist allen Betroffenen ist klar, dass es sich bei den morgendlichen Wehwehchen nicht wirklich um einen Kater im eigentlichen Sinne handelt. Die meisten, mit denen ich sprach, sind dazu der Ansicht, dass der nüchterne „Kater“ viel weniger schlimm sei als der echte.
Aber all das macht die Symptome nicht weniger real. Und es dämmt nicht im Geringsten die Verwunderung ein, die dieses Phänomen auslöst. Immerhin trinken ja viele – mich eingeschlossen – gerade eben deswegen nicht, weil sie neben dem Kontrollverlust auch den dicken Schädel am Morgen nach einer Party vermeiden wollen. Auch Luca meinte mir gegenüber, dass er „überrascht“ gewesen sei, sich trotz Alkoholverzicht nach dem Feiern nicht besonders gut zu fühlen.
Umso mehr drängt sich da die Frage nach dem Warum auf. Auf Reddit wollte mich ein Nutzer mit der These veräppeln, dass durch Alkoholeinläufe ausgelöste Flatulenzen für nüchterne Kater verantwortlich seien. Da mir das als Erklärung noch nicht ganz ausreichte, wandte ich mich zusätzlich an Dr. René Metz, einen Neurologen am Centre Hospitalier de Luxembourg (CHL). Der bestätigte die von mir und anderen gehegte Vermutung, dass eine Kombination aus unterschiedlichen Faktoren zu dem Zustand führten. Dazu zählen Dehydration, Zigarettenrauch, Alter, niedriger Blutzucker und schlechte Ernährung. Interessanterweise beeinflussen viele dieser Aspekte auch den Härtegrad eines richtigen Katers.
Außerdem wies Dr. Metz mich auf das Phänomen der „sleep drunkenness“ hin – also „Schlaftrunkenheit“. Insbesondere nach Feiernächten schlafe ich immer möglichst lange durch, weswegen ich am Morgen drauf auch umso verwirrter darüber bin, dass ich mich überhaupt nicht frisch fühle. Länger als nötig zu schlafen sorgt aber gerade eben dafür, wie Dr. Metz mir verdeutlichte, dass die für den Tag-Nachtrhythmus verantwortlichen Zellen im Hypothalamus durcheinander geraten. Diese biologische Uhr im Gehirn richtet sich nämlich nach Lichtsignalen, um herauszufinden, ob es schon Morgen ist. Bleiben die auf einmal aus, läuft der gewohnte Energiezyklus der restlichen Zellen im Körper aus dem Ruder, sodass man sich schon beim Aufwachen erschöpft fühlt.
So rätselhaft ist der nüchterne Kater also doch nicht – trotz all dem Staunen, das er bei mir und anderen ausgelöst hat. Und es scheint sogar, als ob bei ihm letztendlich die gleichen Tipps und Hausmittel helfen wie beim echten. Darauf erst einmal ein kühles Spezi.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Rücktritte an der FDP-Spitze
Generalsekretär in offener Feldschlacht gefallen
Keith Kelloggs Wege aus dem Krieg
Immer für eine Überraschung gut
Ampel-Intrige der FDP
Jetzt reicht es sogar Strack-Zimmermann
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag