Sybille Volkholz über Engagement: „Eine große Erwartungshaltung“
Sybille Volkholz, Gründerin der Lesepaten, ist Aktivistin in Bildungsfragen. Jetzt wird sie 80. Ein Gespräch über Alter und bürgerschaftliches Engagement.
wochentaz: Frau Volkholz, demnächst im März werden Sie 80. Haben Sie Probleme, über Ihr Alter zu sprechen?
Sybille Volkholz: Überhaupt nicht. Es ist doch gut, wenn man es relativ unfallfrei so weit geschafft hat, gesund und munter ist. Das gelingt nicht allen.
Einsamkeit oder Langeweile, kennen Sie das?
Nein. Ich will damit nicht sagen, dass ich von solchen Gedanken nicht auch mal heimgesucht werde. Im Prinzip versuche ich, etwas Sinnvolles zu machen.
Sybille Volkholz wird 1944 in Pommern geboren. Mit ihren zwei Schwestern wächst sie im Ruhrgebiet auf. Sie studiert in Münster Soziologie und geht 1967 zur Zeit der Studentenbewegung nach Berlin, wo sie bis heute lebt. Von 1972 bis 1989 ist sie Lehrerin an einer Hauptschule und einer Berufsfachschule für ErzieherInnen. Von 1989 bis Ende 1990 ist sie Schulsenatorin der Alternativen Liste im ersten rot-grünen Senat von Berlin.
Sie haben in Berlin in den unterschiedlichsten Funktionen Schul- und Bildungspolitik gemacht, Projekte initiiert. Das von Ihnen 2005 mit dem Verein der Berliner Kaufleute und Industrieller gegründete Projekt die Lesepaten ist ein großer Erfolg geworden. Bundesweit gibt es in dieser Größenordnung nichts Vergleichbares. Was treibt Sie an?
Die Frage ist, was kann man dafür tun, dass eine Gesellschaft zusammenhält. Es gibt bei uns eine große Erwartungshaltung, der Staat müsse in erster Linie dafür sorgen. Das finde ich fatal. Bürger:innen sollten selbst etwas dafür tun.
Geht das genauer?
Ein charakteristisches Beispiel in meiner Zeit als bildungspolitische Sprecherin der Grünen war, dass sich zwei Jungs auf einem Schulhof geschlagen hatten. Eine Abgeordnete nahm den Vorfall zum Anlass, um bei der Plenarsitzung die Frage zu stellen: Was macht der Senat? Ich habe gedacht, diese Abgeordnete hat sie doch nicht alle. Das müssen Schulen doch selber vor Ort regeln. Ich hatte mich schon lange dafür eingesetzt, dass die Schulen mehr Selbstverantwortung erhalten. Oder, ein anderes Beispiel: Die Pisa-Ergebnisse sind im Süden Deutschlands besser als im Norden. Das hat viele Gründe. Leuten, die nach Süddeutschland umgezogen sind, fällt häufig auf, dass im Süden die Selbstwirksamkeit höher ist als hier bei uns: Wenn ich etwas will, muss ich es machen. In Berlin ist diese Denke noch nicht so verbreitet.
Worauf wollen Sie hinaus?
2005 gründet Sybille Volkholz mit dem Verein Berliner Kaufleute und Industrieller das Projekt Berliner Lesepaten, bis 2015 ist sie Mitglied der Projektleitung. Die Berliner Lesepaten sind bundesweit einzigartig und erfolgreicher denn je. Aktuell engagieren sich in der Hauptstadt rund 2.000 Menschen als LesepatInnen mit dem Schwerpunkt auf Grundschulen. Gefördert werden 12.000 Kinder mit 270.000 Stunden im Jahr. Der Anteil an RentnerInnen beträgt 51 Prozent, der Frauenanteil 80 Prozent. Der Anteil an Studierenden, Berufstätigen und anderen jüngeren Menschen sei seit 2015 merkbar gestiegen, teilt der Verein mit.
Das ehrenamtliche Engagement in Berlin hat im letzten Jahrzehnt stark zugelegt, das ist eine sehr erfreuliche Entwicklung. In den Nullerjahren war das noch nicht so. Mit den Lesepaten haben wir bestimmt ein bisschen dazu beigetragen. Aber auch in diesem Ehrenamt gibt es viele Menschen, die sagen, wir sind die Lückenbüßer, weil es der Staat nicht macht. Das finde ich eine falsche Herangehensweise. Für das Vorlesen vor dem Einschlafen ist nicht der Staat zuständig.
Und weniger überspitzt formuliert?
Wir machen das Ehrenamt, weil wir Kindern, die weniger Chancen haben, helfen können. Es soll sozusagen ein gesellschaftlicher Ausgleich untereinander hergestellt werden. Und das kann eben selbst organisiert werden.
Mit Ehrenamt assoziiert man zumeist, da engagieren sich ältere Leute, die ansonsten nicht wissen, was sie tun sollen. Ist der Begriff nicht etwas antiquiert?
Ich spreche auch lieber von bürgerschaftlichem Engagement. In angelsächsischen Ländern ist das ja viel mehr verbreitet. In New York habe ich zum Beispiel mal Schilder mit der Aufschrift gesehen, dieser Park wird von der Nachbarschaft gepflegt. Menschen, die sich um etwas kümmern, identifizieren sich mit dieser Sache auch viel mehr.
Bevor Sie die Lesepaten gegründet haben, haben Sie sich vier Wochen lang kanadische Schulen angeguckt. Was haben Sie vorgefunden?
Mich interessierte, was machen die anders. Kanada lag und liegt bei Pisa fast immer vorne. Auffallend war die positive Besetzung des Begriffs Leistung. Es gibt dort hohe Leistungserwartungen verbunden mit einem sehr lernfreundlichen Klima. Ich habe mich zudem immer gewundert, wie viel Personal die haben, bis mir aufgezeigt wurde, dass viele davon Volunteers waren. Eine durchschnittliche Grundschule hat an die 50 Volunteers. Diese saßen im Schulbüro, in der Bibliothek, waren mit in den Klassen. Das waren teilweise Eltern, es waren auch Jüngere. Es waren nicht nur Senioren.
Diese freiwillige Arbeit muss man sich aber auch leisten können. Jemand, der an der Armutsgrenze herumknapst, verdient sich vermutlich lieber etwas dazu, als sich ehrenamtlich zu engagieren.
Das ist nicht generell so. Nicht nur Gutverdienende engagieren sich. Natürlich sind im Lesepatenprojekt überwiegend Bildungsbürger. Aber auch Vereine wie der Landessportbund leben vom Ehrenamt. Oder gucken Sie doch mal die Tafeln an. Soweit ich weiß, gibt’s da auch Menschen, die sowohl mithelfen, dafür aber auch etwas bekommen, in Form von Nahrungsmitteln. Natürlich haben junge berufstätige Eltern in der Rush Hour des Lebens mit kleinen Kindern weniger Kapazitäten für ein Ehrenamt. Aber auch in der Familienphase engagieren sich viele, wenn man sich zum Beispiel die Betätigung in den Schulen anguckt.
In was für einer Lebensphase befinden Sie sich jetzt?
Im Ruhestand, den man sinnvoll ausfüllen kann. Eine Lesepatin, die nach ihrer Motivation gefragt wurde, sagte mal: Spätestens, wenn der Keller aufgeräumt ist, muss man sich überlegen, was mache ich jetzt? Irgendwas muss man machen. Ich kann nicht den ganzen Tag ins Museum gehen oder lesen. Ich lese meistens zwei Bücher parallel: Belletristik, Sachbuch, und zum Einschlafen ein Hörbuch. Das ist auch schön, reicht aber nicht. Abgesehen davon, dass Ehrenamtliche gebraucht werden, bekommen sie gerade bei der Arbeit mit Kindern unglaublich viel Feedback. Das macht auch Freude.
Reicht das als Motivation, sich zu engagieren?
Sicher auch. Es ist völlig legitim, auch einen Eigennutzen davon zu haben. Etwas zurückzubekommen. Daraus entsteht ja auch Sinn: Nicht nur das Gefühl zu haben, ich mache etwas für andere, ich habe auch etwas davon. Aber auch vom gesellschaftlichen Zusammenhang her sollte man das denken. Die Lesepaten – oft eben mit bildungsbürgerlichem Hintergrund – begegnen benachteiligten Kindern, die sie sonst nie kennengelernt hätten. Und erleben diese als fröhliche, neugierige Kinder. Daraus entwickeln sich auch neue Beziehungen, das ist ja nicht nur Belastung.
Hat Ehrenamt nicht auch etwas Paternalistisches? Senioren etwa erleben Fürsorge manchmal als Bevormundung.
Ich muss nirgendwo paternalistisch auftreten. Ich kann es immer so gestalten, dass es eine Beziehung auf Augenhöhe ist. Das ist generell wichtig im Leben, dass man nicht auftaucht und sagt: Ich versorge dich. Auch bei schweren Pflegefällen muss man gucken, was will der Patient selbst und nicht nur die Angehörigen.
Was machen gleichaltrige Menschen in Ihrem Bekanntenkreis, engagieren die sich auch?
Das ist unterschiedlich. Viele haben viel mit ihren Enkeln zu tun.
Haben Sie selbst auch Kinder und Enkel?
Nein, ich habe aber viele Nichten, Großnichten und -neffen, und eine Ziehtochter mit zwei Kindern, sie lebt aber nicht in Berlin. Von daher hatte ich immer viel mit Kindern zu tun, aber manche in meinem Bekanntenkreis sind hauptberuflich Großeltern. Immer wenn irgendetwas ist, Kind krank, Elternteil krank, kann nicht in die Kita, kann nicht in die Schule: Kannst du mal kommen? Das ist viel. Ansonsten macht der überwiegende Teil meiner Freundinnen und Freunde auch etwas. Entweder im Freiwilligendienst, Telefonseelsorge, im Verein Fuß e. V. oder bei der Hilfe für Geflüchtete.
Ihre Bekannten gehören demnach nicht zu den Senioren, die ihre Zeit ausschließlich mit Reisen, Sport und Körperpflege verbringen?
Solche Leute kenne ich ehrlich gesagt weniger, aber ich würde das nie jemandem vorwerfen. Wenn man schön verreisen will und es sich leisten kann, soll man das tun. Wichtig ist, ob man zufrieden ist, und für mich, ob ich das, was ich tue, sinnvoll finde. Ich wollte immer etwas gesellschaftlich Nützliches, wenn man so will: Politisches bewirken.
Worauf führen Sie das zurück?
Ein bisschen kommt das daher, dass ich meinen Eltern vorgeworfen habe: Was habt ihr im Dritten Reich gemacht? Ich wollte mir etwas Ähnliches nie vorwerfen lassen. Die Verantwortung für das eigene Leben, für die Gestaltung der Gesellschaft ist ein Thema, das mich bis heute beschäftigt. Man kann nicht erwarten, dass andere dafür sorgen, dass meine Wünsche erfüllt werden. Ein bisschen liegt das auch in meiner Sozialisation.
Sie wurden 1944 in Pommern geboren.
Aufgewachsen bin ich aber im Ruhrgebiet, in Essen. Meine Eltern hatten schon vor dem Krieg in Essen gewohnt, mein Vater kommt aus Pommern. Meine Mutter war mit meinen zwei älteren Schwestern nach Pommern geflüchtet, als das Ruhrgebiet bombardiert wurde und mein Vater im Krieg war. Als ich zwei war, sind wir dann nach Essen zurückgezogen.
Was haben Ihre Eltern beruflich gemacht?
Sie waren beide Bankangestellte. In Essen konnten sie auch hinterher wieder anfangen. Das heißt, meine Mutter hat dann mit drei Kindern meistens nicht mehr gearbeitet, das war ja in dieser Generation so. Aber sie war eine sehr aktive Frau. Die Haltung meiner Mutter uns Kindern gegenüber war: Wenn ihr was wollt, müsst ihr das selber hinkriegen. Über fehlende Eigenverantwortung hat sie sich immer lustig gemacht mit dem Spruch: „Schad’ meiner Mutter gar nichts, dass mir die Hände abfrieren, was zieht sie mir keine Handschuhe an.“ Da hatte ich schon ein großes Vorbild an Selbstwirksamkeit. Aber das ist auch ein bisschen Ruhrgebiet. Ich habe meine Eltern nie klagen hören.
Sie sind dann zunächst Lehrerin geworden.
Ich hatte in Münster Soziologie studiert. Nach dem Diplom bin ich 1967 zusammen mit meinem Mann nach Berlin gegangen, zum Nabel der Studentenbewegung. Am Max-Planck-Institut habe ich drei Jahre als wissenschaftliche Mitarbeiterin gearbeitet. Dann habe ich gemerkt, dass Forschen nicht mein Ding ist. Ich wollte etwas unmittelbar gesellschaftlich Nützliches machen, mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, und bin Lehrerin geworden.
Wo?
Erst mal in der Hauptschule. Ich wollte zu den Benachteiligten, rund 13 Prozent der Jugendlichen im Bezirk Charlottenburg waren damals in der Hauptschule. Wir gehörten zu den Lehrkräften, die Arbeiterkinder richtig stärken wollten, wir waren hochmotiviert.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Sie gehörten zu den undogmatischen Linken?
Ja, ich war nie in einer K-Gruppe. Die Zeit an der Hauptschule war eine wichtige, aber auch harte Zeit. Der größere Teil der Schülerschaft hatte keine kognitiven Probleme, aber Verhaltensprobleme. Das war schon schwierig.
Jetzt sind Sie 80. Haben Sie das Gefühl, dass die Zeit wie im Fluge vergangen ist?
Nein, das kann ich überhaupt nicht sagen. Es gibt Zeiten, die kommen einem ein bisschen länger vor, andere kürzer.
Das sogenannte Ruhestandsloch, in das manche fallen, wenn sie aufhören zu arbeiten, kennen Sie vermutlich nicht?
Bei mir war es so, dass ich immer Übergänge hatte, es gab nicht diesen Bruch von einem Tag auf den anderen.
Sie geben bei der Heinrich-Böll-Stiftung nach wie vor bildungspolitische Publikationen heraus. Braucht man auch im hohen Alter immer noch ein Projekt, das einen weiter trägt?
Ich habe noch das eine oder andere vor, aber es nimmt ab. Ich weiß gar nicht, wenn ich nicht selbst ein bisschen drängeln würde, ob mich noch jemand fragen würde.
Besorgt Sie das?
Nein, ich finde das eigentlich ganz gut.
Wo sehen Sie sich in zwei, drei Jahren – auf der Parkbank?
Ganz sicher nicht! Eher noch mehr als jetzt bei Konzerten der Philharmoniker, noch mehr im Museum. Aber nein, irgendwas werde ich dann wahrscheinlich auch noch machen. Was mich zum Beispiel interessiert, wäre kiezbezogen etwas zu tun. Das habe ich bisher noch wenig gemacht.
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