Susanne Memarnia hat „Ödipus“ im Gefängnis gesehen: Unschuldig oder schuldig? Auch hinter Gittern kann Sophokles Trost bringen
Es ist wohl kein Zufall, dass dieser Tage viele deutsche Bühnen, in Berlin etwa das Deutsche Theater, den „Ödipus“ im Programm haben. Der antike Stoff passt gut ins Heute. Wie reagiert eine Gesellschaft auf existenzielle Krisen – heißen sie nun Pest oder Corona? Die Sehnsucht nach einem „Führer“, aber auch nach Schuldigen, die man verantwortlich machen kann, kennen wir gut – leider haben wir keine Götter und vorgeknüpfte Schicksalsfäden mehr. Umso drängender fast stellt sich uns die Frage, was der Einzelne tun kann, um einer angekündigten Katastrophe – ob Vatermord oder Klimatod – zu entgehen. Verdrängen und weglaufen hilft nicht, lehrt Sophokles, doch auch die Wahrheitssuche des Ödipus bringt am Ende nur Verzweiflung. Dennoch kann man der Geschichte auch Positives abgewinnen, wie die neue Aufführung des Gefangenentheaters in der JVA Tegel von „Ödipus, Tyrann“ nach Heiner Müller zeigt, die am Dienstagabend der Presse vorgeführt wurde. „Leben heißt, sich zu seiner Schuld zu bekennen“, sagt Regisseur Peter Atanassow im Anschluss. Die Erkenntnis, dass man schuldig ist, ist für ihn ein „ungeheurer Befreiungsschlag, das treibt uns weiter“.
Für die Gefangenen, die zum Großteil schon länger im Ensemble mitspielen, sei die Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld allerdings schmerzlich gewesen, sagt Chris-Bär Templiner, Darsteller des Priesters. „Jeder von uns ist sich seiner Schuld in höchstem Maße bewusst“, erklärt er, seine Mitgefangenen nicken ernst. Es sei auch anstrengend gewesen, ergänzt Paul E., der einen großartig-verzweifelten Ödipus gibt: die täglichen Proben über sieben Wochen, zusätzlich zur normalen Arbeit, seien ein „Riesen-Energieaufwand“. Für die Männer hat es sich gelohnt, man sieht es ihren stolzen und glücklichen Mienen nach der Aufführung an und hört es aus ihrem Schwärmen vom „tollen Zusammenhalt“, ihrem Lob und sieht es an ein paar Tränen für den Regisseur.
Auch als Zuschauer ist man gebannt, allein schon wegen der Kulisse, schließlich kommt „man“ nicht alle Tage in den Knast. Voyeuristisch fühlt sich der Gang über das Anstaltsgelände an, vorbei an eingezäunten Freistundenhöfen und Zellentrakten, von woher – wie im Film – ein „Holt mich hier raus!“ zur abendlichen Besuchergruppe herüberschallt. Die Aufführung selbst findet, wie immer seit 2015, auf den Fluren eines leer stehenden Zellentrakts statt. Bläuliches Licht und sparsam eingesetzte Klaviermusik erzeugen eine düster-klaustrophobe Stimmung.
Eingeleitet wird der Abend mit einem Vorspiel nach Eugéne Ionesco. Auch hier geht es um eine Stadt, in der die Menschen von einer rätselhaften Krankheit dahingerafft werden und sich die Bürger deswegen anfeinden. „Wissenschaft ist machtlos“, rufen die einen. „Wer das sagt, unterliegt dem Mystizismus!“, entgegnen die anderen. Dann übernimmt der Tyrann in Pestmaske und grauem Ledermantel die Macht. „Eure Angst ist meine Hoffnung. Meine Amtszeit hat begonnen.“
Einen Zellengang weiter, im alten Theben, nimmt Ödipus’ Tragödie ihren bekannten Lauf. Festzuhalten bleibt: Vor allem die Hauptrollen machen ihre Sache gut, am meisten überzeugt neben Ödipus seine Mutter/Ehefrau Iokaste (Peter Maier C.d.F.), die/der auch eine schöne Arie (aus der gleichnamigen Oper von Igor Strawinsky) singt. Abgerundet wird der Abend mit dem – zunächst überraschenden – Gute-Nacht-Lied „Der Mond ist aufgegangen“, das textlich jedoch verdammt gut zur über allem schwebenden Ödipus-Frage passt, ob der Mensch nämlich tatsächlich „unschuldig schuldig“ sein kann. Wie heißt es so schön in der dritten Strophe? „Wir stolze Menschenkinder, sind eitel arme Sünder, und wissen gar nicht viel …“
Es gibt noch Termine für Ende Oktober und Anfang November sowie Karten für die Vorstellungen unter shop.gefaengnistheater.de.
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