Suche nach entführten Schülern in Israel: Der Hass wächst
Auf der Suche nach den entführten Jungen durchkämmt das israelische Militär unerbittlich das Westjordanland. „Tod den Arabern“, rufen Israelis. Sie wollen Rache.
KFAR ETZION/HEBRON/NOF AYALON taz | Das Tor zur Einfahrt von Kfar Etzion steht offen, und der Wachposten scheint sich gerade einen Kaffee zu holen. Nichts deutet darauf, dass hier vor einer Woche drei junge Männer verschwunden sind. Naftali Frenkel, Gilad Schaer und Eyal Ifrach wollten nach dem Unterricht in ihrer Jeschiwa, der Talmudschule, nach Hause trampen, um das Wochenende bei ihren Familien zu verbringen. Am späten Donnerstagabend ging der Anruf bei der Polizei ein. „Ich bin entführt worden“, schaffte einer der Jungen zu sagen, bevor die Leitung gekappt wurde. Erst fünf Stunden später begann die Suche.
Rund tausend Leute leben in Kfar Etzion, ein national-religiöser Kibbuz im besetzten Westjordanland, der wie viele andere Kooperativen mitten in der Privatisierung steckt und rasch wächst. „Wir haben uns erst vor Kurzem hier eingekauft, um zu bauen“, sagt eine junge Mutter, die sich mit zwei anderen Frauen und deren Kindern auf dem Spielplatz trifft. Der Park ist großzügig und gepflegt. Irgendwo übt jemand auf dem Klavier Chopin.
Etwas abseits liegt das Internat der vermissten Teenager. Es sind einfache Unterkünfte für 300 Schüler der zehnten bis zwölften Klasse. Der Unterricht findet in Baracken statt oder in dem großen Lehrsaal, der Platz für alle gleichzeitig bietet. „Naftali hat meistens vorne links gesessen“, deutet einer der Mitschüler auf eine leere Bank. „Wir haben hier keine feste Sitzordnung.“
Die Jungen stehen in Gruppen, manche versuchen, sich in die heiligen Texte zu vertiefen, andere bleiben draußen und beobachten die Reporter vom Armeeradio oder vom Channel 10, die seit der Entführung täglich live berichten. Aber keiner will Fragen beantworten. „Anweisung vom Erziehungsministerium“, sagen die Halbwüchsigen mit einer für ihr Alter außergewöhnlichen Disziplin. Obwohl es seit fünf Tagen kein Lebenszeichen ihrer Mitschüler gibt, ist die Stimmung entspannt. Angst lässt sich niemand anmerken.
Angesichts der Spannungen nach der Entführung dreier israelischer Jugendlicher im Westjordanland haben die USA Israelis und Palästinenser zur Zurückhaltung aufgerufen. „Wir verstehen, dass es vor Ort unglaublich sensible und schwierige Umstände sind, und wir denken, alle Seiten sollten sich in Zurückhaltung üben“, sagte die Sprecherin des Außenministeriums, Jen Psaki am Mittwoch in Washington. „Wir drängen beide Seiten zur Zurückhaltung und zur Vermeidung von Schritten, welche die Lage destabilisieren könnten.“
Psaki begrüßte die „starke Botschaft“ von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas, der gesagt hatte, die Entführer wollten „die Palästinenser zerstören“. Die Außenamtssprechrin bestätigte zudem, dass einer der drei Entführten auch die US-Staatsbürgerschaft besitze und die US-Behörden mit dessen Familie in Kontakt stünden. Seit der Entführung der 16- bis 19-jährigen Schüler am Abend des 12. Juni nahm die israelische Armee 240 Palästinenser fest. Sie durchsuchte zudem 800 Gebäude und zehn Hamas-geführte Einrichtungen. Die israelische Regierung macht die radikalislamische Hamas-Bewegung für die Entführungen verantwortlich.
In der Nacht zum Donnerstag flog die israelische Armee nach palästinensischen Angaben vier Luftangriffe im Gazastreifen, bei denen insgesamt drei Menschen verletzt wurden. Laut israelischer Armee waren zuvor zwei palästinensische Raketen vom Gazastreifen auf den Süden Israels abgefeuert worden. Eine der Raketen habe ein Haus beschädigt. (afp)
Brennpunkt Hebron
„Die Arbeitsprämisse ist, dass die Entführten leben und dass sie noch im Westjordanland sind“, verkündet Verteidigungsminister Mosche Jaalon. Israels Sicherheitsapparat konzentriert die Suche auf Hebron und Umgebung. Kfar Etzion liegt etwa zehn Kilometer nördlich von Hebron. Unweit liegt das arabische Dorf Dura, wo das vermutete Fahrzeug der Täter bald nach der Entführung gefunden wurde – ausgebrannt.
Ein Sonderaufgebot von offiziell 2.000 Soldaten ist im Einsatz. Die Männer und ein paar Frauen in Uniform durchkämmen die Straßen nach Hamas-Aktivisten. „Wir dürfen die Stadt nicht verlassen“, schimpft Mohammad Scharif. Der 18-jährige Palästinenser lebt gleich neben der Grabstätte Abrahams, in einer Zone, die unter israelischer Besatzung steht. Die israelischen Soldaten gehören für Scharif zum Alltag, nicht aber die Großrazzien im palästinensisch kontrollierten Teil von Hebron. Die Schüsse, die zu hören sind, nimmt er trotzdem kaum war.
Die Offensive der Soldaten stößt hier auf wenig Widerstand. Doch nicht immer geht es so glimpflich ab. In einem Flüchtlingslager bei Ramallah gab es schon einen Toten. Die Palästinenser klagen über das harte Vorgehen der Soldaten, von stundenlangen Verhören und Schlägen. Noch hält das moderate Regime von Präsident Machmud Abbas, noch arbeiten palästinensische Sicherheitsdienste mit Israels Armee zusammen. Palästinenser in Uniform sind nicht zu sehen. Sie haben ihren israelischen Kollegen das Feld geräumt.
„Alle Israelis sind Soldaten“
Trotz der neuen Schikanen, die die Palästinenser in Hebron über sich ergehen lassen müssen, gelten die Entführer in weiten Teilen der Bevölkerung als Helden. „Vielleicht kommen jetzt unsere Gefangenen frei“, hofft Scharif. Ihn lässt es kalt, dass die israelischen Geiseln noch so jung sind. „Auch wir haben Kinder in den israelischen Gefängnissen“, sagt er. Manche seien erst 14 Jahre alt, andere noch jünger. „Alle Israelis sind Soldaten“, sagt er, früher oder später.
Hebron gilt als Hochburg der Hamas. Nirgends im Westjordanland leben Juden und Muslime so eng beieinander wie hier. Für die Israelis, die in winzigen Siedlungen von jeweils nur ein paar Häusern mitten unter Palästinensern leben, hat die Entführung keine spürbaren Folgen. Zwei israelische Jugendliche rennen an den Marktständen, an denen seit Jahren keine Früchte mehr gehandelt wurden, vorbei. Ein orthodoxer Israeli, vermutlich ist er zum Gebet an die Grabstätte gekommen, macht sich sorglos zu Fuß auf den Weg in die benachbarte Siedlung Kirjat Arba. Vielleicht nimmt ihn jemand mit dem Auto mit.
Auch für den Abiturienten Avichai Kadosh, der in Kirjat Arba zur Schule geht, geht „ohne Trampen gar nichts“. Die Busse kommen unregelmäßig und sind zu teuer. „Es hätte mich Tausende Schekel gekostet, immer mit dem Bus zur Schule zu fahren“, sagt der Siedler, weit über 200 Euro. Er war gerade zwölf, als er zum ersten Mal zu einem Fremden ins Auto stieg. Dabei warnt die Armee seit Jahren vor Entführungen. „Wir wussten, dass es gefährlich ist“, gibt Avichai zu. Er selbst hat schon „manchmal ein ungutes Gefühl“. Niemals mit Arabern fahren, ist eine der Vorgaben. Man könne sie leicht erkennen, auch wenn sie sich wie Juden kleideten.
Trampen gegen die Angst
Die drei Entführten wussten, dass sie aufpassen müssen. „Es kann jedem passieren“, sagt Avichai. Aber das hält ihn nicht vom Trampen ab. Gerade jetzt sei die Gefahr gering, bei dem riesigen Sicherheitsaufgebot. Selbst wenn es weitere Entführungen geben sollte, würde Avichai nicht anders handeln. „Dass ich weiter mache, ist eine Antwort auf den Terror.“ Nur keine Schwäche zeigen. Schließlich „ist das hier mein Land“. Der junge Siedler redet sich mehr und mehr in Schwung. „Wir entwickeln uns in rasantem Tempo!“ Früher oder später müssten die Araber „von hier verschwinden, besser freiwillig. Aber wenn es sein muss auch mit Gewalt“.
Avichai ist unterwegs zu einer Solidaritätskundgebung für die Familien der Entführten. Bei den Siedlungen von Etzion, auf halbem Weg zwischen Bethlehem und Hebron, stehen schon ein paar Dutzend junge Siedler. „Das Volk Israel lebt“, rufen sie und: „Fürchtet euch nicht!“. Dann lassen sie ihrem Zorn freien Lauf. Sie fordern „Rache!“, rufen: „Tod den Arabern“. Ein Aufgebot von Grenzpolizisten bewacht die Demonstration. Die einzigen, für die hier Gefahr droht, sind die vorbeifahrenden Palästinenser.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite ist eine Bushaltestelle. „Trampiada“, heißt das in der Umgangssprache der Siedler. Ob fromm oder weltlich, Mann oder Frau – jeder hält die Hand hoch, wenn ein Auto vorbeikommt, auch sehr junge Israelis. Jair Ben-Schimon ist gerade 15 Jahre alt. „Am Anfang hatte ich schon ein bisschen Sorge“, gibt er zu. Dann verbessert er sich sofort. „Wir müssen ihnen zeigen, dass wir keine Angst haben“, bekräftigt er, genau wie Avichai. „Die Entführungen werden ihnen nichts bringen.“
Ein Kindersitz ist ein gutes Zeichen
Keiner will die drei entführten Jugendlichen mit für ihr Schicksal verantwortlich machen. Das Problem sei nicht, per Anhalter zu fahren, sondern die Araber, die die Juden töten wollten, heißt es nahezu einstimmig. Man müsse eben aufpassen, sagt der junge Jair, und nur dann einsteigen, wenn man sich ganz sicher ist. Ein Kindersitz auf der Rückbank etwa sei ein gutes Zeichen, oder wenn eine Frau mit im Auto ist. „Wenn ein Mann am Steuer sitzt und einer hinten, dann steige ich nicht ein.“
Mit Gottes Hilfe werden die drei Entführten bald wieder frei sein, hofft der Halbwüchsige. Er und seine Freunde „beten rund um die Uhr“ für sie, und „wir bringen den Soldaten jeden Abend eine warme Suppe“. Es könne noch eine Weile dauern, räumt Jair ein. „Für die Soldaten ist das wie die Suche nach der Nadel in einem Heuhaufen.“
So wie zwei der Entführten wohnt auch Jair in Israel, geht aber im Westjordanland zur Schule. Nur an den Wochenenden fahren die Schüler heim, fast immer per Anhalter. Naftali Frenkel war auf dem Weg zu seiner Familie in Nof Ayalon, unweit der israelischen Stadt Modein, als er in die Hände der Geiselnehmer fiel. Vor seinem Elternhaus haben Freunde ein Zelt aufgestellt. „Lernen für den Erfolg der Militäroperation Rückkehr der Brüder“, steht auf einem Spruchband. Die Jungen halten Gebetsbücher in den Händen und wippen im Rhythmus der Psalmen, die sie murmeln.
Auch die Kinder haben Anweisung, nicht mit Reportern zu reden. Stattdessen gehen die Mütter der Entführten vor die Kameras. Die drei Frauen rühmen die Arbeit der Sicherheitsdienste und geben sich zuversichtlich, ihre Söhne bald wieder in den Armen zu halten. „Der Staat Israel stellt Welten auf den Kopf, um euch nach Hause zu bringen“, sagt Racheli Frenkel, die Mutter Naftalis, guten Mutes und bedankt sich lächelnd beim „Volk Israel“ für die Gebete und für die Unterstützung, die sie und ihre Familie erfahre. Als ob sie sie hören könnten, richtet sie sich immer wieder direkt an die entführten Söhne, die „geliebt und vermisst“ werden. „Seid stark!“
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