Stuttgart 21-Kompromiss abgelehnt: Bahn vergibt neue Bauaufträge
Geißlers Kombilösung aus Kopf- und Durchgangsbahnhof findet bei der Bahn keine Zustimmung. Sie hält an ihren Plänen fest. Die Landesregierung will dagegen den Kompromiss ernsthaft prüfen.
STUTTGART dpa | Die Bahn hat den Kompromissvorschlag des Stuttgart-21-Schlichters Heiner Geißler abgelehnt und Bauaufträge für das Projekt im Gesamtwert von 700 Millionen Euro vergeben. Ein Viertel der gesamten Projektvergaben sei damit abgeschlossen, teilte Bahnvorstand Volker Kefer am Samstag in Berlin mit.
Die für November geplante Volksabstimmung will der bundeseigene Konzern nicht abwarten. "Wir werden natürlich weiterbauen. Wir werden völlig unaufgeregt dieses Projekt fortführen, so wie es notwendig, sinnvoll und richtig ist", sagte Kefer der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.
Geißler hatte am Freitag überraschend eine Kombination vorgeschlagen: den oberirdischen Kopfbahnhof für den Nahverkehr zu nutzen und den geplanten unterirdischen Durchgangsbahnhof für den Fernverkehr. Das Projekt Stuttgart 21 sieht bislang einen Tiefbahnhof anstelle des Kopfbahnhofs vor. Der Neubau soll 4,1 Milliarden Euro kosten, für seine Kompromissvariante veranschlagt Geißler 2,5 bis 3 Milliarden Euro.
Landesregierung will Geißler-Vorschlag prüfen
Baden-Württembergs grün-rote Landesregierung will die Chancen für den Kompromiss ausloten. Sie teilte mit: "Die Landesregierung nimmt den Vorschlag von Heiner Geißler ernst und wird ihn in verkehrlicher, finanzieller und planungsrechtlicher Hinsicht auf seine Tragfähigkeit überprüfen. Die Landesregierung will mit der Deutschen Bahn über das weitere Vorgehen sprechen."
Baden-Württembergs Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) sieht in dem Diskussionsprozess eine große Chance. "Das renommierte Verkehrsberatungsbüro sma hat den Vorschlag mitentwickelt; das gibt ihm hohes Gewicht", sagte ein Sprecher Hermanns. Zudem werde derzeit in Zürich ein ganz ähnliches Modell umgesetzt.
Die Vergabe der neuen Bauaufträge schafft nach Ansicht der Regierungskoalition keine unumkehrbaren Fakten. "Der Zeitplan für die Volksabstimmung steht", sagte der SPD-Fraktionsvorsitzende Claus Schmiedel. "Die Aufträge sind im Herbst noch nicht ausgeführt." Ein Ausstieg aus dem Projekt sei daher weiterhin möglich, ebenso ein Umstieg auf den Kompromissvorschlag.
DB: Kompromisslösung wirft Projekt um 10 Jahre zurück
Den Zuschlag für die Millionenaufträge erhielt eine Bietergemeinschaft unter Federführung der österreichischen Porr-Gruppe. Sie soll den 9,5 Kilometer langen Fildertunnel bauen, der den geplanten Tiefbahnhof mit dem Flughafen verbindet. Zudem erhielt sie den Zuschlag für den Bau der Tunnel nach Ober- und Untertürkheim.
"Wir können mit Stolz sagen, dass wir vollauf im geplanten Kostenrahmen liegen", sagte Projektsprecher Wolfgang Dietrich der Zeitung Sonntag Aktuell. "Das Argument der Gegner, es werde ohnehin alles teurer, ist damit also schon mal bei 25 Prozent des Gesamtprojekts entkräftet."
Geißler warnte dagegen im Radiosender SWR1: "Stuttgart 21 ist mit enormen finanziellen Risiken verbunden, die schlecht kalkulierbar sind." Die Kombilösung sei "billiger und zweimal besser". Bei Zustimmung aller Beteiligten sei sie auch baurechtlich in absehbarer Zeit umsetzbar.
Die Deutsche Bahn entgegnete, der Kompromiss würde das Projekt um zehn Jahre zurückwerfen. Für die vorgeschlagene Kombination gebe es keinerlei Planfeststellung, sagte ein Konzernsprecher. "Nur weil ein neuer Vorschlag im Stadium einer Idee vorliegt, gibt es keinen Grund, ein Bauprojekt zu unterbrechen." Die Bahn habe "nicht nur Baurecht, sondern auch Baupflicht", betonte er. "Es gibt abgeschlossene Verträge. Wir haben keine Wahl."
Allerdings werde die Bahn - wie vom Gutachterbüro sma vorgeschlagen - einen neuen, modifizierten Simulationslauf für den geplanten Tiefbahnhof machen. Mit dem für den Stresstest entworfenen Fahrplan sollen in den kommenden Wochen 100 Betriebstage noch einmal virtuell durchgespielt werden. Das Ergebnis werde erneut von der sma testiert und dann veröffentlicht, kündigte die Bahn an.
Ramsauer: Uralte Variante
Das Bundesverkehrsministerium kündigte zwar eine Prüfung des Geißler-Vorschlags an. Allerdings sagte Minister Peter Ramsauer (CSU): "Das ist nichts Neues, sondern eine uralte Variante, die vor vielen Jahren bereits schon einmal verworfen wurde." Stuttgart 21 habe den Stresstest bestanden, fügte er in der "Passauer Neuen Presse" (Samstag) hinzu. "Jeder ist jetzt aufgefordert, seiner vertraglich vereinbarten Projektförderungspflicht nachzukommen und das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 voranzutreiben."
Auch die Opposition im Südwesten kritisierte Geißler und dessen Vorschlag. "Das Verfahren hat mehr Verwirrung geschaffen als Ruhe gebracht", sagte eine Sprecherin des CDU-Fraktionsvorsitzenden Peter Hauk. "Wenn man jetzt den Kompromiss nimmt, dreht man das Rad zurück auf Null für ein Modell, das man schon vor 15 Jahren abgelegt hat, weil es keine Vorteile bringt." Der Vorsitzende der FDP-Landtagsfraktion, Hans-Ulrich Rülke, bewertete die Idee als "völlig verrückt" und "Vorschlag aus Absurdistan".
Das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 sieht in der Kombilösung dagegen einen möglichen Kompromiss. Sprecherin Brigitte Dahlbender forderte aber einen sofortigen Bau- und Vergabestopp. Ähnlich äußerte sich der Sprecher der "Parkschützer", Matthias von Herrmann: Man brauche Zeit, um Geißlers Vorschläge in Ruhe zu prüfen. Die Bahn dürfe in dieser Zeit keine Fakten schaffen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“