Sturmflut-Vorsorge: Der Norden mauert sich ein
Wissenschaftler warnen vor steigenden Meeresspiegeln und höheren Sturmfluten. Das Gegenmittel: höhere Deiche und Dämme
HAMBURG taz | Es war die schlimmste Sturmflut aller Zeiten an der Ostsee. Vom 11. bis 13. November 1872 drückte ein Nordost-Orkan zwei Tage lang das Wasser in die Lübecker Bucht, die Flutwelle erreichte eine Höhe von 3,50 Metern. Das Gebiet der heutigen Ostseebäder Haffkrug, Scharbeutz und Timmendorfer Strand wurde weitflächig verwüstet. 271 Menschen starben, 654 Schiffe wurden beschädigt oder zertrümmert, fast 3.000 Häuser verschwanden vom Erdboden, Zehntausende Stück Vieh ertranken. Etwas Ähnliches gab es nie wieder an der deutschen Ostseeküste, etwas Ähnliches allerdings kann jederzeit wieder passieren.
Denn die Meeresspiegel werden schneller als bisher befürchtet steigen. Um mindestens 26 Zentimeter, im ungünstigsten Fall um 82 Zentimeter würden die Pegel an Nord- und Ostsee bis zum Ende des Jahrhunderts sich erhöhen, hat der Weltklimarat in seinem am Freitag in Stockholm vorgelegten Bericht errechnet.
Zugleich sagten Experten auf dem Extremwetterkongress in Hamburg voraus, das Wetter in Norddeutschland werde „trockener, heißer und stürmischer“. Schon bis 2035 seien 20 Prozent weniger Niederschläge und deutlich mehr Stürme zu erwarten. Zwar würden „extreme Wetterereignisse regional begrenzt bleiben“, sagte Frank Böttcher von Institut für Wetter- und Klimakommunikation, das sei aber kein Grund zur Beruhigung: Wo es stürmt und hagelt, würden die Schäden umso größer ausfallen.
Seit 1970 hat sich die Zahl der Naturkatastrophen in Deutschland von zehn auf 35 mehr als verdreifacht, rechnete Peter Hoppe vor, Leiter der Risikoforschung bei der Rückversicherung Munich Re. Schäden von neun Milliarden Euro habe allein die Elbeflut im Mai und Juni verursacht, bereits jetzt sei 2013 das Jahr mit den zweithöchsten Unwetterschäden. Nur beim Elbhochwasser 2002 lag die Schadenssumme mit 20 Milliarden Euro noch höher.
Die norddeutsche Küste entspricht mit fast 4.500 Kilometern ungefähr der Entfernung Stockholm-Teneriffa.
Niedersachsen und Bremen: 1.143 Kilometer inklusive der Inseln und Flussmündungen.
Schleswig-Holstein: 1.193 Kilometer, davon an der Nordsee 451, an der Unterelbe 105 und an der Ostsee 637.
Hamburg: 103 Kilometer entlang der Elbe.
Mecklenburg-Vorpommern: mit Inseln fast 2.000 Kilometer.
„Der Klimawandel schreitet voran“, stellt auch der Kieler Forscher Mojib Latif fest. „Wir werden eine massive Erwärmung bekommen, wenn wir so weitermachen wie bisher“, so der Wissenschaftler vom Geomar-Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung. Ob effektiver Klimaschutz aber wirklich umgesetzt würde, „wage ich mal zu bezweifeln“, so Latif.
Denn speziell die Norddeutschen machen so weiter wie bisher: Sie mauern sich immer höher ein. Die Küsten seien „winterfest“, vermeldete am Sonntag der Direktor des Landesbetriebs für Küstenschutz Schleswig-Holstein, Johannes Oelerich. Um dem Klimawandel zu trotzen, werden derzeit alte Deiche durch neue Deiche mit einem „Klima-Zuschlag“ von 50 Zentimetern ersetzt. Zudem haben sie eine extrem breite Deichkrone von fünf Metern als „Baureserve für spätere Nachverstärkungen“, so das Umweltministerium. Dadurch könnte noch in Jahrzehnten mit geringem Aufwand eine zusätzliche „Kappe“ aufgesetzt werden.
Das neue Deichprofil sei um 20 Prozent teurer als die alten Deiche, sagte Oelerich. Die Mehrausgaben würden künftigen Generationen zugute kommen: „Wenn die nachrüsten, müssen sie für eine Deichverstärkung nur etwa 20 Prozent unserer Investitionskosten aufwenden“, rechnete Oelerich vor. „Damit übernehmen wir Verantwortung für die Sicherheit künftiger Generationen“, sagt der grüne Umweltminister Robert Habeck.
Kiel hat in diesem Jahr insgesamt rund 66,8 Millionen Euro für den Küstenschutz eingeplant. Mecklenburg-Vorpommern investiert nach Angaben des Umweltministeriums bis 2020 insgesamt 120 Millionen Euro. In Niedersachsen müssen nach früheren Angaben noch rund 200 Küstenschutzprojekte realisiert werden. Für 2013 waren dafür 72 Millionen Euro vorgesehen. Hamburg erhöht seine Dämme zurzeit für rund 700 Millionen Euro auf 8,50 Meter Höhe.
Denn wer nicht weichen will, weiß der Norddeutsche seit über 1.000 Jahren schon, der muss deichen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt
++ Nachrichten zum Umsturz in Syrien ++
Baerbock warnt „Assads Folterknechte“
100 Jahre Verkehrsampeln
Wider das gängelnde Rot
Bundestagswahlkampf der Berliner Grünen
Vorwürfe gegen Parlamentarier