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Sturm auf den Präsidentenpalast

Der 90jährige Charmeur Compay Segundo, dessen produktivste Zeit ein halbes Jahrhundert zurückliegt, öffnet voller Vitalität die Schatzkiste der kubanischen Musik  ■ Von Jan Möller

Manchmal kommt alles ganz anders. Und so stand Francisco Repilado alias Compay Segundo Anfang April plötzlich auf der Bühne im kleinen Saal des Hamburger Curiohauses, um schnittchenfutternden Presseleuten seine aktuelle CD schmackhaft zu machen. Ein Mann von neunzig Jahren, mit lässigem Swing in der Hüfte und der Gabe, selbst dem durch gediegene Tanztee-Orchester längst abgenudelten Klassiker „Guantanamera“ wieder Leben einzuhauchen.

Dabei hätte noch vor ein paar Jahren kaum jemand von dem juvenilen Greis Notiz genommen. Traditionelles afrokubanisches Liedgut? Nur was für Fachleute und politische Solidaritätsgrüppchen. Zudem lag Compay Segundos produktive Zeit schon ein knappes halbes Jahrhundert zurück: An der Seite von Compay Primo alias Lorenzo Hierrezuelo veröffentlichte er mit dem Duo Los Compadres zwischen 1942 und 1950 phasenweise Platten im Monatsrhythmus.

Daß der Komponist eines ganzen Haufens kubanischer Gassenhauer urplötzlich rund um den Globus zum Star wurde, ist dem rasant beschleunigenden Kuba-Boom und seiner von der Plattenindustrie bestens geölten Lokomotive zu verdanken: dem Album des Buena Vista Social Club, für das Gitarrist Ry Cooder etliche Musiklegenden der Karibikinsel zusammengetrommelt hatte – darunter auch Repilado, die bedeutendste zweite Stimme der música tradicional cubana, den Saitenzauberer.

Und obwohl die frühen Aufnahmen des compadre allesamt ein paar Knoten mehr Fahrt haben als die Lieder der Flamenco-beeinflußten neuen CD Lo Mejor De La Vida – verlernt hat der alte Charmeur noch nichts. Behende wie eh und je zwirbelt er unwiderstehliche Melodien auf der armúnico, einer Kreuzung aus Gitarre und der kubanischen tres. Ab und an streut er laszive Verzögerungen in seine gekonnten Improvisationen ein. Daß der eine oder andere Ton beim Singen nicht hunderprozentig sitzt, verzückt das Ohr authentizitätshungriger westlicher Connaisseure nur noch mehr.

Dazu tickt verläßlich der treibende synkopische Beat der Rhythmussektion, und zwischen den Akkorden knarrt die Vergangenheit. Was könnte der Mann für Döntjes erzählen: Wie er als kleiner Bubi bei den stetigen Hausbesuchen des berühmten Troubadours Sindo Garay das Einmaleins des Son erlernte. Wie er in den Vierzigern in der Gruppe von Miguel Matamoros Klarinette spielte und mit Beny Moré musizierte. Oder wie Sänger Pio Levya 1957 die Plattenaufnahmen mit ihm unterbrechen mußte, weil die Schüsse revolutionärer Truppen beim Sturm auf den Präsidentenpalast auch im Studio deutlich zu hören waren.

Mit dem Konzert in der Musikhalle, nach den Auftritten von Rubén González und den Afro-Cuban Allstars in diesem Jahr bereits der dritte, tiefe Griff in die Schatzkiste der kubanischen Musikgeschichte, kommt nun eine weitere Episode hinzu: die vom späten Ruhm, den der vitale Genosse mit seinen hip gewordenen musikalischen Antiquitäten in der westlichen Welt erntet. Antiquitäten, die nur unwesentlich restauriert wurden und dennoch nichts von ihrer Schönheit verloren haben.

Mi, 30. September, 20 Uhr, Musikhalle

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