Stummfilme vertonen: "Ein Fehler kann genial sein"

Stephan von Bothmer ist einer der bekanntesten Stummfilm-pianisten Deutschlands. Am heutigen Freitag startet seine Konzertreihe im Dom

Stephan von Bothmer Bild: Birgit Meixner

Stephan von Bothmer, 40, studierte Mathematik und Musik in Freiburg und Berlin. Bothmer hat autonome Musik, Musik für Theater, Performances und eine Rockoper komponiert. Seit 1998 vertont er Stummfilme. Seine Faszination für das Medium entdeckte er eher zufällig in der Studentenzeit.

Von Bothmer vertont an diesem und dem folgenden Wochenende vier Stummfilmklassiker live im Berliner Dom. Die Reihe beginnt heute mit "Ben Hur" von 1925, am Samstag folgen vier Kurzfilme von und mit "Stan & Olli" (auch als "Dick & Doof" bekannt) von 1928/29. Am Freitag, 20. Januar, wird "Berlin. Die Sinfonie der Großstadt" von 1927 vertont, tags darauf "Panzerkreuzer Potemkin" von 1925.

taz: Herr von Bothmer, wir leben in der Ära von DVD und Blu-Ray. Was reizt Sie am antiquierten Stummfilm?

Stephan von Bothmer: Der Stummfilm ist sehr anachronistisch. Mich reizt, dass ich bei jedem meiner Stummfilmkonzerte improvisiere. Ich sehe den Film live mit und verhalte mich mit meiner Persönlichkeit zu ihm. Indem ich die Musik jedes Mal für mein Publikum neu mache, entsteht etwas Einzigartiges.

Sie verhalten sich mit ihrer Persönlichkeit zum Film - was meinen Sie damit?

Mein Befinden prägt die Improvisation. Wenn ich beispielsweise kürzlich eine Phase hatte, in der ich mich mit afrikanischer Musik beschäftigt habe, dann kommt stärker das Düstere und Dämonische in einen Film. Hatte ich vor einem Konzert zufällig einen Streit, wirkt sich das ebenfalls auf mein Klavierspiel aus.

Welche Macht hat die Musik über den Stummfilm?

Die Wirkung der Musik kann sehr extrem sein. Bei der Neuaufführung von Fritz Langs Metropolis auf der Berlinale 2010 gab es im Friedrichstadtpalast eine Aufführung mit Orchester. Die Leute haben den Film später im Gang als kitschig beschrieben. Kurz darauf habe ich zum selben Film im Zoopalast mit einem Ensemble gespielt. Mehrere Leute kamen im Anschluss zu uns auf die Bühne und zeigten sich überrascht. Sie hatten den Film schon im Friedrichstadtpalast gesehen und fanden es unglaublich, welche Tiefe und Dramatik der Film mit unserer Musik hatte.

Sie haben bisher mehr als 500 Stummfilmkonzerte gespielt. Die wenigsten der alten Filme gibt es auf DVD. Wie kommen Sie an die alten Medien ran?

Die Beschaffung eines Filmes ist ein großes Problem. Meist ist ein enormer Rechercheaufwand vonnöten. Am Ende der Stummfilmära hatte man eine riesige Auswahl an Filmen. Davon sind nur fünf Prozent in den Filmarchiven der Welt vorhanden, nicht alle sind in guter Qualität erhalten. Mit Glück hat ein Archiv den Film auf VHS gespielt, dann kann ich ihn vorher sehen. Nicht selten ist mir ein Film bis zur ersten Aufführung unbekannt. Dann gehe ich auf die Bühne und habe keine Ahnung was läuft.

Sie vertonen einen Film ohne zu wissen, was passiert?

Die Improvisation wirkt erstaunlich gut. Dadurch, dass der Musiker nicht weiß, wie es weitergeht, kommt eine Spannung in die Musik, die sich auf das Publikum überträgt, die man so niemals komponieren könnte.

Aber was, wenn der Pianist in einer Szene auf das falsche Pferd setzt?

Das passiert natürlich, aber ein Fehler kann mitunter genial sein. Nehmen wir einen Krimi. Es gibt eine romantische Kussszene zwischen einem jungen Paar. Ich spiele dazu ein vergnügtes Liebesthema. Aus dem Nichts stößt die Frau ihm ein Messer in den Bauch. Die Kehrtwende wirkt wie eine emotionale Ohrfeige. Weil ich genauso überrascht wurde wie das Publikum, wirkt sie extrem und authentisch.

Im Berliner Dom werden Sie die Filme an der Orgel begleiten. Was unterscheidet das Instrument vom Klavier?

Die Orgel kann etwas, was das Klavier nicht kann: Sie kann die dunkle Seite der Welt darstellen. Ich drücke eine Taste und es ertönen die Posaunen von Jericho, die Zerstörung bringen.

Im Dom wird auch "Dick und Doof" gezeigt. Passt schallendes Lachen in ein Gotteshaus?

Der Pfarrer meiner Kirche meinte einmal, alles was zum Menschen gehöre, gehöre auch in die Kirche. Das finde ich einen klasse Satz. Natürlich gehört "Stan & Ollie" in die Kirche, weil selbst Rachegefühle und Schadenfreude menschlich sind. "Stan & Ollie" ist der revolutionärste von den Filmen, die wir zeigen. Der Kirche scheint eher viel an der stillen Freude zu liegen, die aber auf keinen Fall die Freude über den Schaden anderer miteinbezieht.

Wie haben Sie es geschafft, dass Filme erstmals in der Kirche gezeigt werden können?

Ich habe ein Konzept geschrieben, das den Dom auf nicht platte Weise nutzt. Ich sehe den Auftritt als eine geistige Öffnung. Die Kirche ist nicht so konservativ, wie ihr nachgesagt wird.

Sie neigen zu Experimenten. Zuletzt haben sie in einer Gefängniskirche gespielt. War das Ihre bisher größte Herausforderung?

Das Stummfilmkonzert im Gefängnis war eines der intensivsten Erlebnisse seit Langem. Die Hälfte des Publikums waren Besucher, die andere Insassen. Das war alleine gewagt durch die Situation. Die Begleitung von Fußballspielen während der EM 2008 und der WM 2010 war für mich musikalisch gewagter.

Sie betätigten sich an der Orgel der Berliner Emmaus-Kirche als Fußballkommentator.

Das Fußballspiel war ein Risiko, weil niemand vorher wusste, ob es funktioniert und das Publikum mitgeht. Zudem gab es ein Missverständnis mit der Gemeinde. Ich nahm an, dass ich zum laufenden Ton spiele. Als ich erfahren habe, dass sie diesen abschalten wollen, dachte ich, das klappt doch überhaupt nicht. Die Sache ging dann doch erstaunlich gut. Die Verbindung von Musik und dem Spiel war so intensiv, dass die Leute während des EM-Finales sagten: "Spiel schneller!" Als ob ich die Spieler dazu bringen könnte, energischer zu kämpfen.

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