Studieren im Westjordanland: Der schwere Weg zur Universität
Wer in Nablus im Westjordanland studieren will, muss auf dem Weg zur Universität oft Checkpoints passieren. Die reagiert mit Onlineangeboten.
Während eine Straße, die auf beschlagnahmtem Land liegt, die Siedler komfortabel mit der Autobahn Richtung Jerusalem bringt, kann Ezz an manchen Tagen sein Dorf kaum verlassen. Die Straße, die aus Burin zur Autobahn führt, ist seit Oktober nicht mehr passierbar. Geröll und Steine versperren den Weg, das Militär hat sie dort platziert. Die Umgehungsstraße entlang der Hügel und Dörfer dauert deutlich länger. Wer in der Siedlung aufwächst und auf eine Universität gehen möchte, zieht nach Tel Aviv oder in eine der anderen Universitätsstädte Israels – oder pendelt bequem über die Schnellstraße dorthin.
Ezz, der nur seinen Vornamen gedruckt sehen möchte, ist 20 Jahre alt und studiert Informatik an der Universität An-Naja in Nablus. Die Uni hat einen guten Ruf, liegt auf den vorderen Plätzen vieler Ranglisten der über ein Dutzend Hochschulen im Westjordanland. Von Burin bis zum Campus beträgt die Autostrecke etwa 9 Kilometer. Ezz lebt weiter daheim – ein Zimmer in Nablus ist teuer. Normalerweise fahre er unter der Woche fast täglich nach Nablus, erzählt er, und besuche dort seine Seminare. Doch seit dem 7. Oktober wird das Pendeln immer schwieriger. So geht es gerade vielen Studierenden.
Nablus hat einen Ruf: Die über 150.000 Einwohner zählende Stadt ist berühmt für Knafeh, eine Süßspeise aus Teigplatten, geschmolzenem Käse und süßem Zuckersirup, für die kleine Minderheit der Samariter, für seine historische Altstadt. Und für die Miliz, die sich „Höhle des Löwen“ nennt und in ebenjener Altstadt ihren Hauptsitz haben soll. Die Bilder junger Männer in schwarzen Shirts, mit modernen Sturmgewehren in den Händen und schwarzer Stirnbinde zieren dort den gelben Stein des alten Marktes. Zwischen Gewürzständen und Shops mit günstigen Jeans aus der Türkei stehen immer wieder junge Männer und Jugendliche. Sie wirken, als würden sie Ausschau halten.
„Dann kann ich nicht zum Unterricht“
Es ist auch diese Gruppe, deretwegen Israel Nablus mit Checkpoints und orange Metallbügeln – ein Gitter, das geschlossen die Straße blockiert – umzingelt hat. Ohne die Checkpoints bräuchte er zehn, fünfzehn Minuten mit dem Auto zur Universität, sagt Ezz. Mit dem Checkpoint sei es mindestens eine Stunde. Und wenn die Straße ganz geschlossen ist? Ezz zuckt mit den Schultern: „Dann kann ich nicht zum Unterricht.“
Im Jahr 2022 tauchte die Miliz „Höhle des Löwen“ zum ersten Mal auf und hat seitdem deutlich an Beliebtheit gewonnen, gerade unter jungen Menschen. Die seit Jahrzehnten anhaltende Besetzung des Westjordanlands, die vielen den Alltag erschwerenden Checkpoints und die so nah an Nablus herangerückten israelischen Siedlungen geben militanten Gruppen wie der Miliz „Höhle der Löwen“ Auftrieb. Vor allem im nördlichen Westjordanland, wo militante Gruppen mehr Rückhalt genießen als in der De-facto-Hauptstadt Ramallah, stoßen das israelische Militär und die Milizen immer wieder brutal zusammen. Checkpoints und Straßensperren gibt es überall im Westjordanland – doch gerade um Nablus häufen sie sich.
Die Stadt wurde wiederholt – vor allem seit 2022 – vom israelischen Militär abgeriegelt. Etwa im Winter 2022, als drei Wochen lang die Checkpoints an den Straßen, die in die Stadt hineinführen, geschlossen blieben. Oder nach dem 7. Oktober 2023.
Wer auf einer der Hauptstraßen nach Nablus hineinfährt, passiert die orangefarbenen Metallbügel. An der schmalen Straße, die von Nablus in Ezz’ Heimatdorf Burin führt, gibt es diese nicht, sondern einen Checkpoint des israelischen Militärs. Ein paar dienstschiebende Soldaten winken dort in voller Montur Auto um Auto durch. Manchmal sei der Checkpoint bemannt und manchmal nicht, sagt ein Mann, der ihn passieren möchte. An der Straße, die zum Checkpoint führt, hat jemand eine portable Toilette aufgestellt. An diesem Freitagmorgen – Wochenende im Westjordanland – ist der Stand, der an der Strecke Kaffee und Snacks verkauft, geschlossen. Manchmal, sagt der Mann, ziehe sich der Stau bis nach Nablus hinein. Deswegen die Toilette.
Universität reagiert mit Onlineunterricht
Es ist nicht nur Ezz, dem diese Checkpoints den Weg zum Studium erschweren. Die An-Najah-Universität hat darauf reagiert und setzt deswegen auf Onlineunterricht. Saida Affouneh ist Dekanin der Fakultät für Bildungswissenschaften und Begründerin des E-Learning-Centers an der Universität. Die Checkpoints begleiteten alle Palästinenser, in jedem Bereich ihres Alltags, erzählt sie mit sanfter Stimme. Ihre Tochter arbeite heute in den Emiraten. Zu Beginn, als sie mit ihren Freunden dort einmal weiter draußen etwas unternehmen wollte, habe sie vor Aufbruch gefragt: Hat jemand geprüft, ob auf dem Weg ein Checkpoint liegt? Affouneh lächelt. „Sie wussten nicht, wovon meine Tochter spricht. Doch für uns ist das die Normalität.“
Nablus werde immer wieder abgeriegelt, erklärt Affouneh. „Die Stadt steht unter Belagerung, wird beschossen. Das geht schon mein ganzes Leben so.“ Manchmal wache sie um vier Uhr morgens auf, weil es wieder eine Razzia des israelischen Militärs in Nablus gibt. „Und dann überlegen wir: Schließen wir die Universität für einen Tag? Und dann tun wir das.“ Denn wenn es über Nacht eine Razzia gab, sind am nächsten Morgen meist die Wege nach Nablus vom israelischen Militär versperrt. „Strategische Planung“, nennt Affouneh das.
„Während der Coronapandemie hatten wir einen Heimvorteil“, sagt sie. Seit 2012 gibt es das E-Learning-Center der Universität als Reaktion auf die Straßensperren und Checkpoints, so Affouneh. Während der Pandemie habe die Uni einfach auf das vorhandene Online-Learning-System umgestellt und andere Universitäten dabei unterstützt. Auch jetzt, wo nach dem 7. Oktober wieder mehr Straßensperren eingerichtet worden sind, setzt die An-Najah-Universität wieder auf dieses Instrument. An zwei Tagen pro Woche habe er Onlinekurse, berichtet Ezz. Und er gibt zu: Das mit der Konzentration, wenn man nur auf einen Bildschirm starre, sei nicht so einfach.
Hilfe für Studierende in Gaza
E-Learning sei keine Dauerlösung, findet auch Affouneh. Die Studierenden und Lehrenden interagierten zu wenig miteinander. Mit ihrem E-Learning-Programm versucht Affouneh zudem, Studierenden in Gaza zu helfen. „Sie können als Gasthörer Kurse bei uns besuchen“, sagt sie. Denn viele Universitäten in Gaza sind schwer beschädigt, der Betrieb ist eingestellt, die Studierenden sind geflohen. Weil das Internet in Gaza oft schlecht oder gar nicht funktioniert, arbeitet Affouneh nun daran, den Gasthörenden zuvor aufgezeichnete Kurse zur Verfügung zu stellen, die sie bei funktionierendem Internet herunterladen können.
Für Studierende aus dem Westjordanland, die für praktische Kurse zum Campus in Nablus kommen müssen, versuche sie Unterkünfte in der Stadt zu finden. „Ich liebe das Sozialleben, das die Studierenden miteinander haben“, sagt Affouneh. „Das lässt sich nicht durch Onlinekurse ersetzen.“ Und weil so viele junge Menschen – 25.000 sind es in etwa – an der An-Najah-Universität studierten, lasse sich auch am Stadtbild, an den Restaurants und Cafés von Nablus erkennen, ob die Hochschule gerade geschlossen sei.
Am Abend blüht im Sommer das Leben in Nablus auf. Tagsüber ist es heiß und trocken, viele Bewohnerinnen und Bewohner präferieren die klimatisierten Räume ihrer Häuser und Büros. Doch wenn es nach Sonnenuntergang kühler wird, sind die Restaurants und Parks voll. Gruppen junger Mädchen im Studierendenalter teilen sich Shishas, Pärchen spazieren unter den Bäumen, junge Männer fahren mit lauter Musik und röhrendem Motor durch die Stadt.
Vor allem wenn er abends oder am Nachmittag mit seinen Freunden unterwegs sei, bleibe er gerne über Nacht in Nablus, sagt Ezz. Denn wolle er wieder zurückfahren nach Burin, habe er dasselbe Problem wie auf dem Weg in die Stadt hinein: Der Checkpoint sei in beide Richtungen besetzt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Scholz bezeichnet russischen Raketeneinsatz als „furchtbare Eskalation“