Studie zu Armut trotz Arbeit: Aufstocken könnte wegfallen
Hunderttausende sind trotz Job auf Hartz IV angewiesen. Manche Pläne der neuen Regierung könnten helfen – andere könnten das Problem verfestigen.
Die knapp 90-seitige Studie beschreibt detailliert die Strukturmerkmale der so genannten „Aufstocker“. Demnach übt fast die Hälfte (46 Prozent) aller erwerbstätigen ALGII-Bezieher einen Minijob aus. Unter allen Aufstockern sind mehr als drei Viertel (76 Prozent) im Niedriglohn-Sektor tätig. Besonders alleinerziehende und ihre Kinder sind in diesem Zusammenhang häufig von Armut betroffen. 20 Prozent der Kinder, deren alleinerziehende Mutter dauerhaft in Teilzeit oder geringfügig erwerbstätig sind, erlebten laut Studie dauerhafte Armut.
In der Coronapandemie ist der Anteil der Aufstocker allerdings zurückgegangen. Im Jahr 2019 lag er laut Bertelsmann-Stiftung noch bei mehr als 26 Prozent. Im Jahr 2021 seien es 22 Prozent gewesen. Allerdings bedeutet der Rückgang vor allem, dass in Minijob-Branchen wie der Gastronomie Corona-bedingt Arbeitsplätze wegfielen – und nicht, dass es Betroffenen gelungen wäre, einen Job zu finden, der die Abhängigkeit vom Jobcenter beendet.
Eine ebenfalls in der Studie enthaltene Langzeit-Analyse zeigt auch für die Vor-Corona-Zeit, dass Aufstocker meist länger auf Hilfen angewiesen bleiben. Zwischen 2010 und 2019 benötigten im Durchschnitt knapp 56 Prozent der Aufstocker auch im Folgejahr Unterstützung vom Jobcenter. Nur 20 Prozent gelang der Übergang in Jobs über Grundsicherungsniveau.
Minijobs als „Armutsfalle“
Die Ausweitung des Niedriglohnsektors und die Hartz-Reformen haben einen harten Kern von Arbeitnehmern geschaffen, die dauerhaft zu wenig verdienen. Unter anderem die Bertelsmann-Stiftung gilt übrigens als Ideengeber für die damaligen Hartz-Reformen.
Wie kann die Politik die Lage der „Working Poor“ verbessern? Die von der Ampel-Regierung geplante Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro würde die Sozialausgaben für Aufstocker reduzieren, prognostiziert etwa der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Marcel Fratzscher. Die Autoren der Bertelsmann-Studie befürworten zudem die von den Grünen in den Koalitionsvertrag eingebrachte Kindergrundsicherung.
Kritisch sehen sowohl die Studienautoren als auch Sozialverbände allerdings die angepeilte Ausweitung der Minijobs. Diese „fördern nicht den Einstieg in den regulären Arbeitsmarkt, sondern sind zu einer Armutsfalle für viele Menschen geworden“, sagte etwa VdK-Präsidentin Verena Bentele.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Rückzug von Marco Wanderwitz
Die Bedrohten
Repression gegen die linke Szene
Angst als politisches Kalkül