Studie über Kinderverschickungen: Erinnerungen, die für immer bleiben
Ein Kieler Team erforscht Historie der Kinderverschickung nach St. Peter-Ording. Das ist bundesweit ein Novum, lange wurde über das Thema geschwiegen.
Salzwiesen, Watt, Sandstrand: Die Gemeinde St. Peter-Ording in Nordfriesland ist ein malerischer Ort. Hier tue man „nicht nur der Seele etwas Gutes, sondern auch der eigenen Gesundheit“, lockt seine Tourismus-Zentrale. Hier entstünden „Erinnerungen, die für immer bleiben“.
Einige, die zwischen 1945 und den 1990ern wegen der Gesundheit kamen, als „Verschickungskinder“, von Haus-, Amts- und Schulärzten für eine Kur empfohlen, gingen in der Tat mit Erinnerungen, die für immer blieben. Es waren Ängste und Traumata. Sie waren ohne ihre Eltern hier, oft für viele Wochen, in kirchlichen, staatlichen, privaten Heimen, manche erst zwei Jahre alt.
In rund 1.000 Einrichtungen fanden diese Kuren statt, bundesweit. In St. Peter-Ording ballten sich bis zu 50 davon. 325.000 Kinder und Jugendliche kamen insgesamt hierher, wegen Unterernährung, Bewegungsmangel, Hauterkrankungen, Atemstörungen, Tuberkulose. Manche empfanden die Kur als Tortur.
Runder Tisch ist bundesweit einmalig
Seit 2021 befasst sich ein Team der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) unter Leitung des Soziologen Peter Graeff und des Historikers Helge-Fabien Hertz mit dem, was damals geschah. Ein ehemaliges Verschickungskind hatte der Gemeinde seine Geschichte erzählt. Die rief eine Arbeitsgruppe ins Leben und gab der CAU den Auftrag, Licht ins Dunkel zu bringen.
Das ist geschehen, durch Archivmaterial, Interviews und Fragebögen. Eine Monografie steht kurz vor dem Abschluss. Eine Ausstellung entstand: „Kinderkurheime in St. Peter-Ording: Orte der Erholung, Orte der Gewalt?“ Jüngst startete ein Runder Tisch mit Betroffenen, einstigem Heimpersonal, AnwohnerInnen, Gemeinde-VertreterInnen sowie Angehörigen des schleswig-holsteinischen Ministeriums für Justiz und Gesundheit. Vier Sitzungen sind geplant, bis hinein in den Herbst 2025.
Die erste habe in „erfreulich guter, sehr konstruktiver Atmosphäre“ stattgefunden, sagt Hertz, der die Runde koordiniert und moderiert. „Das hätte auch anders sein können, denn das ist ja ein sehr emotionales, leidvolles Thema. Da prallen sehr unterschiedliche Sichtweisen aufeinander.“ Der Runde Tisch sei „bundesweit das erste Format, in dem Betroffene, die als Kinder in der Verschickung negative Erfahrungen gemacht haben, mit ehemaligem Heimpersonal sprechen, das diese Zeit positiv erlebt hat“, sagt Hertz. „Unser Dreiklang aus Forschung, Ausstellung und Dialog ist auf Multiperspektivität ausgerichtet.“
Was in St. Peter-Ording geschieht, ist bundesweit ein Novum. „Über dieses Thema ist sehr lange geschwiegen worden“, sagt Hertz. Erst ab 2019 sei die Verschickung in einer breiteren Öffentlichkeit kritisch hinterfragt worden. „Da fragt man sich natürlich, wie das sein kann. Vielleicht haben Eltern ihren Kindern damals nicht geglaubt? Vielleicht waren Kinder damals zu eingeschüchtert, um zu Hause davon zu erzählen?“
Es sei zu körperlicher Züchtigung gekommen, sagen Betroffene, zu Einsperrungen, Essensentzug und Essenszwang. Es habe Beschimpfungen gegeben, Herabsetzung, Postzensur, Verbote. Vom Essenmüssen bis zum Erbrechen ist die Rede. Vom Liegen in Kot und Urin. Vom militärischen Gleichschritt-Marschieren statt freiem Spiel im Sand.
In den damaligen Akten findet sich dazu kaum etwas. Das gilt auch für Berichte des Heimpersonals und für Berichte von Kindern mit neutralen oder positiven Erfahrungen. Das CAU-Team muss nun Subjektives wissenschaftlich fassen. Viele der damals auch in Familien und Schulen üblichen, aus heutiger Sicht bedenklichen Erziehungsmethoden seien „den Bedürfnissen von Kindern nicht gerecht“ geworden, heißt es in der Ausstellung. Belege für „systematische Gewaltanwendungen aus niederen oder ideologischen Beweggründen“ gebe es aber nicht.
Keine juristischen Folgen
„Knapp 3.000 einstige Verschickungskinder haben sich bis heute in einem Forum der Bundesinitiative ‚Verschickungskinder‘ mit Kritik zu Wort gemeldet“, sagt Hertz. Mit Berichten über Strenge und Zwänge, über Schläge, über Sitz- oder Stehstrafen. „Aber das lässt natürlich nicht den Schluss zu, dass es bei allen der schätzungsweise rund zehn Millionen Verschickungskinder ähnlich war.“
Juristisch haben die Geschehnisse von St. Peter-Ording keine Folgen mehr; sie sind verjährt. Innerlich aber wirkt es nach. „Das ist ja ein Trauma, das weitergegeben wird“, sagt Svenja Sassen, Vorsitzende des Ausschusses für Jugend, Kultur, Bildung und Sport in St. Peter-Ording. „Und je mehr man sich damit befasst, desto tiefer bewegt das.“ Sassen diskutiert am Runden Tisch mit. „Ich finde es toll, dass wir als Gemeinde uns all das leisten“, sagt sie – die Aufklärungsarbeit sei schließlich nicht umsonst.
Es gebe „keine einfachen Antworten“, sagt Soziologe Peter Graeff, der die CAU-Arbeitsgrupe leitet. Dazu gehört: St. Peter-Ording, in der Arbeit seiner Aufarbeitung beispielgebend, war Teil eines Systems. Aber das lässt sich nicht verallgemeinern.
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